Zwischen Mangobäumen und deutschen Spielplätzen: Nadège Kusanikas Debütroman "Unter derselben Sonne"

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"Lisolo" bedeutet Geschichte. Und dass Nadège Kusanika sie erzählen kann, beweist sie mit einem Debüt, das auf dezente Weise erschüttert. Unter derselben Sonne ist kein Aufschrei, kein Manifest, kein klagendes Protokoll über Migration und Marginalisierung. Es ist vielmehr eine leise, mit bildstarker Genauigkeit erzählte Erinnerung an ein Aufwachsen zwischen Kongo und Deutschland, zwischen Erde und Asphalt, zwischen kolonialen Schatten und weiblicher Selbstbehauptung. Erschienen ist der Roman im Aufbau Verlag, Berlin im März 2025.

Aufbau Verlag, Berlin

Kindheit in Kinshasa: Erzählen als Widerstand

Schon die ersten Seiten offenbaren Kusanikas poetische Kraft: Ein Kind, das mit einem angespitzten Stock Figuren in die Erde malt, bevor es beginnt, Geschichten zu erzählen. Der Boden wird zur Leinwand, der Hocker zur Erzählbühne, das Spielen zum literarischen Akt. Wer hier noch von "Kindheitsidyll" spricht, hat nicht gelesen, wie die Erzählerin ihre Flip-Flops bei den Nachbarn mit Wasser vom Wäschespülen reinigt, weil die Mutter das wertvolle Wasser nicht für schmutzige Füße verschwenden will. Doch gerade in dieser schnörkellosen Beschreibung steckt alles: Selbstermächtigung, Kreativität, ein leiser Trotz. Und, ohne dass es explizit gesagt werden muss, eine tief feministische Kraft.

Denn wer sich als Mädchen die eigene Stimme erzählt, während nebenan ein anderes Kind mit einer spannenderen Geschichte mehr Zuhörer*innen bekommt, wer sich in einem patriarchal geprägten Raum behaupten muss, der weiß, dass Erzählen nicht nur Spiel ist, sondern Überleben. Schon früh lernt die Erzählerin, dass Stimme bedeutet: Raum, Aufmerksamkeit, Gesehenwerden. Die kindliche Kränkung über verlorene Zuhörer wird zum Symbol für das Ringen um Sichtbarkeit in einer Welt, die weibliche Stimmen allzu gern überhört.

Die Sprache: Sinnlich, klar, unpathetisch

Kusanikas Sprache ist nie laut, nie moralisch überladen. Sie vertraut auf die Kraft des Konkreten: Sand, der an Füßen klebt, der improvisierte Fußball aus Plastiktüten, der Blick der Mutter, die Naomi Campbell gleicht, wenn sie in High Heels zur Kirche schreitet. Es sind diese Bilder, die haften bleiben. Ihre Prosa ist durchzogen von einer feinen Ironie, die ohne Zynismus auskommt, aber das Absurde im Alltäglichen sichtbar macht. Wenn die Erzählerin beschreibt, wie sie mit zerschlissenen Flip-Flops kilometerweit zur Bushaltestelle geht, ist das keine Elendsliteratur, sondern eine Beschreibung weiblicher Resilienz.

Zwischen den Welten: Migration ohne Klischees

Als sie später nach Deutschland kommt, wird der Kontrast nicht zum dramatischen Bruch stilisiert. Stattdessen zeigt Kusanika, was es bedeutet, zwischen Spielplatznormierung und kultureller Erinnerungsarbeit zu stehen. Die deutsche Ordnung der Spielplätze erscheint im Kontrast zur improvisierten Kreativität kongolesischer Kindheit beinahe kafkaesk. Doch statt in Westalgie zu verfallen oder das Eine gegen das Andere auszuspielen, verbindet sie: Erinnern als Form des Widerstands, Erzählen als Aneignung von Welt.

Die Mutter als stille Heldin

Besonders stark sind jene Szenen, in denen die Mutterfigur auftritt. Ihre Strenge, ihre Rituale, ihr Glaube. Eine Frau, die zwischen Armut, Religion und Würde lebt. Die nicht akzeptiert, dass man Gott in alten Flip-Flops begegnet, weil Respekt eine Frage der Haltung ist, nicht der Möglichkeiten. Diese Mutter ist keine sentimentale Projektionsfläche, sondern eine leise Heldin. Und sie ist der Motor eines Erziehungsstils, der Weiblichkeit mit Haltung und Stolz verknüpft, nicht mit Unterordnung.

Erinnerung als politische Praxis

Kusanika reflektiert über das Schreiben selbst, über die Aufgabe, "les sans voix" eine Stimme zu geben. Aber sie macht aus dieser Verpflichtung keine Pathos-Geste, sondern verwebt sie mit den konkreten Erfahrungen ihrer Erzählerin. Das Erzählen wird zur politischen Praxis, gerade weil es die vermeintlich kleinen Szenen groß macht. Die Nadel, mit der die Mutter den Floh aus dem Zeh entfernt. Der Schuster, dessen Werkstatt aus Stoffbahnen besteht. Der Regen, der geliebt und gefürchtet wird.

Diese Details sind keine folkloristische Kulisse, sondern literarische Setzungen. Wer von "Sprachgewalt" sprechen will, muss hier ansetzen: an der Schnittstelle von sinnlicher Konkretion und narrativer Präzision. Kusanikas Prosa erzwingt keine Betroffenheit, sie bietet ein Gegenangebot zum eurozentrischen Blick auf "afrikanische" Geschichten. Und das, ohne sich der westlichen Lesbarkeit anzubiedern.

Ein kraftvoller Roman

Unter derselben Sonne ist ein literarisch kraftvolles Debüt. Es ist ein Text, der nicht den einfachen Weg geht, der Komplexität zulässt, Ambivalenzen nicht glättet und dabei doch von einer tiefen Humanität durchzogen ist. Kusanika schreibt sich mit diesem Roman nicht nur in eine literarische Tradition des postkolonialen Erinnerns ein, sondern setzt einen deutlichen, weiblich-selbstbewussten Ton.

Ein Roman über das Erzählen, über das Gehörtwerden, über das Sichtbarwerden in einer Welt, die ihre "Stimmlosen" zu oft übergeht. Ein Roman, der gerade deshalb so politisch ist, weil er nicht mit großer Geste auftritt, sondern mit kluger Beharrlichkeit.

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