Viel wurde in den vergangenen Tagen über die Veröffentlichung der Autobiografie Prinz Harrys gesprochen. "Reserve", so der Titel in deutscher Übersetzung, sei Skandal, Blamage, ein unverfrorener und geschmackloser Angriff. Die bereits bekannten Details - in Spanien wurden die Memoiren "versehentlich" eine Woche früher veröffentlicht - lassen auf ein bewegtes, nicht widerspruchsfreies Lebens schließen, das radikal und schonungslos erzählt wird. Von Mord ist da die Rede, von Trauer, Liebe und Verlust. Alles jahrhundertealte Romanstoffe, die wir, blicken wir auf die deutsche Gegenwartsliteratur, nur selten in so unverblümter Form wiederfinden.
Es ist die wohl aufregendeste Buchveröffentlichung des Frühjahres: Prinz Harrys Memoiren erhitzten bereits vor Erscheinen unzählige Gemüter, erschütterten Lebensrealitäten, erzeugten Angst und Wut in einem Ausmaß, wie es das geschriebene Wort lang schon nicht mehr fertig gebracht hat. Sicher ist diese Erhitzung auch auf die Tatsache zurückzuführen, dass "Reserve" als ein weiteres, wichtiges Puzzleteil im Verlauf eines epischen Familiendramas erscheint. Eines Dramas, in dessen Zuge sich Millionen von Zuschauerinnen und Zuschauer auf die eine oder andere Seite schlagen konnten, von wo aus sie nun mitfieberten, verteidigten und diskutierten.
Vielleicht wäre es eine interessanter Ansatz, die hier vorgeführte Geschichte als ein auf der Bühne der Weltöffentlichkeit aufgeführtes Theaterstück zu betrachten, welches deshalb so viel Aufsehen erregt, weil es gut geschrieben erscheint und wunderbar umgesetzt wird. Ja, wollen wir die Begeisterung begreifen, mit der nun auch auf die Veröffentlichung von "Reserve" geblickt wird, müssen wir "Harry und Meghan gegen das Königshaus" als Plot lesen. Mit all den nebendarstellerischen Verflechtungen. Mit dem gewalttätigen Bruder, in dessen Schatten sich der jüngere stets bewegte. Mit der Trauer um die früh verstorbene Mutter. Mit der festen Überzeugung: es war Mord! Mit dem gefühlskalten Vater, dem das Trösten unmöglich ist. Schließlich mit der Entscheidung des ausgegrenzten Sohnes, in die Gewalt zu fliehen, ins Töten.
Prinz Harrys identifikationsstiftendes Drama
Wir haben es also mit einem einigermaßen stringenten Plot zu tun. Mit einer Erzählung, die nun - aus der Perspektive Harrys - als Stückwerk veröffentlicht wird. Im Rahmen der Aufführung "Harry und Meghan gegen das Königshaus" könnte man sich "Reserve" als einen langen Monolog vorstellen, der uns allein über die Art und Weise wie hier Erlebtes verarbeitet wird, die Figur des Prinzen näher bringt. Kämpferisch, aufrichtig, blankziehend.
Natürlich, wollte man einen Vergleich wagen, läge es nahe anzunehmen, das in diesen Memoiren erzählte Leben sei erzählenswerter als ein mittelständisches Musterdasein. Die Geschichte eines Prinzen, der - die Liebe auf seiner Seite - gegen das eigene Haus rebelliert, verspreche mehr Spannung als der sich stetig wiederholende Alltag eines Heizungsinstallateurs aus der brandenburgischen Provinz. Schaut man allerdings genauer hin, erkennt man, dass jene Themen, die Harrys Geschichte im Kern zu einer nachvollziehbaren, vielleicht berührenden machen, die allermeisten Lebensgeschichten zeichnen und bewegen. Das Aufbegehren gegen das Elternhaus, das mit dem Einschlagen eines eigenen, meist holprigen Lebensweges einhergeht. Die Trauer infolge eines Verlustes, die in Wut umschlägt. Und auch wenn es für gewöhnlich nicht das Töten ist, welches in den meisten Leben die Wut kanalisiert, so sind es andere Arten der Auslöschung. Abbrüche, Umkehrungen oder - auch darin steckt etwas Katastrophales - das Füllen leerer Tage mit Lohnarbeit.
Die Identität anstelle universeller Liebe
Von wenigen Ausnahmen abgesehen, finden wir die großen literarischen Themen, die uns Harry Leben und Buch holzschnittartig vor Augen führen, in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nur in verwaschener Form behandelt. Vor Themen wie Liebe, Verlust und Trauer schiebt sich immer häufiger die Folie der eigene Identität. So sehen wir die Liebe häufig als Liebe unter identitätspolitischen Gesichtspunkten beschrieben, längst nicht mehr als universelle, katastrophale Kraft, die sie ist. Aus Liebe wird Selbstliebe. Aus Verlust Ich-Verlust. Wut ist etwas, dass nicht mehr wächst, sondern sich auf der dritten Seite eines Romans rasch entlädt, um anschließend mit der Neudefinition der eigenen Person zu beginnen.
Während uns das Stück "Harry und Meghan gegen das britische Königshaus" also als eine Szenerie vor Augen führt, in der wir eigene Lebensgeschichten wiedererkennen können, haben wir es auf der anderen Seite mit Romanen zu tun, die dazu tendieren, Anknüpfungspunkte nur für gewisse, zersprengte Grüppchen zu liefern. Während "Reserve" - Harrys nun in Buchform erschienener Monolog - eine persönliche Geschichte auf universeller Grundlage erzählt, findet sich in unseren Ich-Romane keine Möglichkeit zur Verallgemeinerung. Liebe, Leid, Trauer - all diese ohnehin individuellen Gefühle werden individualisiert, beinahe so, als müsse man sie zum Aushängeschild der eigenen Person machen. "Du kannst nicht leiden, wie ich leide", hört man es von den deutschen Shortlists her rufen. Harry antwortet "Ich muss meine Familie schützen". Wenn ich mich für einen dieser beiden mit Pathos aufgeladenen Sätze entscheiden müsste, stünde mir der zweite näher.