Heute erscheint das neue Buch des Bloggers Sascha Lobo. "Realitätsschock" prankt als Überschrift in dicken Lettern auf dem Cover. Darunter: eine sich allmählich auflösende Welt. "Zehn Lehren aus der Gegenwart" bietet der Autor im Untertitel an. Es sind Lehren, die uns auf kommende Umbrüche und Veränderungen vorbereiten sollen. Ein wichtiger Punkt in Lobos Analyse: Die jüngere Generation.
In seiner 1917 erschienenden Arbeit "Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse" beschäftigte sich Sigmuns Freud mit den Widerständen, die der von ihm entwickelten psychoanalytischen Methode seinerzeit entgegengebracht wurden. Freud kam zu den Schluss, dass sich die Psychoanalyse, wie jede andere wissenschaftliche Neuerung auch, gegen das etablierte Denken durchsetzen muss,und das dies zwangsläufig mit einer Verletzung der Gefühle der Menschheit einhergeht. Er nennt drei große Einschnitte, mit denen diese Verletzung sichtbar wurde: Die Erkenntnis, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist (Kopernikus); die Erkenntnis, dass der Mensch aus der Tierreihe hervorgegangen ist (Darwin); und schließlich die "psychologische Kränkung", die Erkenntins nämlich, dass ein beträchtlicher Teil unseres Seelenlebens aus unterbewussten Vorgängen abzuleiten ist (Freud).
Wir sind nicht Herr im eigenen Hause, umschrieb der Psychoanalytiker seine Erkenntnis damals. Heute ließe sich hinzufügen: Wir sind nicht die Herren dieser Welt.
Eine nächste Kränkung?
Denn trotz all diesen Kränkungen scheint die Menscheit dennoch weiterhin der Überzeugung gewesen zu sein, die Welt, auf denen jene wissenschaftlichen Errungenschaften und Erneuerungen stattfanden, gehöre ihr. Man war verzweifelt, wütend, bestürzt, zuweilen auch umgestüzt. Aber man war all dies in einem sicheren Zuhause. Dieses Zuhause allerdings, scheint gegenwertig zu zerfallen; und der Titel "Realitätsschock", mit dem Sascha Lobos neues Buch überschrieben ist, könnte fasst auf eine vierte große Kränkung der Menscheheit hinweisen. Es ist die Einsicht, dass man der Komplexität und den Problemzusammenhängen unserer Welt nicht mehr Herr werden kann, dass die Räume unseres Zuhauses nicht mehr überblickbar sind. Die bewohn- und bewirtschaftbare Welt ist zu einem unübersichtlichen Labyrinth geworden, in dem wir umherirren, uns eigene Meinungen bilden, und vergehen.
und dementsprechend beginnt auch der Ankündigungstext zu Lobos Analyse mit den Worten: "Haben Sie das Gefühl, die Welt ist aus den Fugen geraten?", und setzt gleich nach, dass "Sie"mit diesem Gefühlt nicht allein sind. In der Tat. Wer nun allerdings eine Anleitung zu einem vergnüglichen Zurück-Zur-Alten-Welt-Kurs erwartet, wird enttäuscht werden. Lobo ist weit entfernt davon sich die Illusion zu machen, man könne eine auseinanderklaffende Welt wieder zusammenbringen. Ein Zurück, wie es etwa Rechtspopulisten immer wieder proklamieren, ist ausgeschlossen. Vielmehr begegnen wir hier einer radikalen Gegenwartsanalyse, einem schonungslosen Blick in den Spiegel.
Die gegenwärtigen politischen Ansätze, die zur Lösung unserer Probleme verhelfen sollen, seien, so Lobo, Methoden des 20. Jahrhunderts. Sie werden nichts verändern können. Versprechungen, die in ihrem Narrativ suggerieren, dass es auf dem gegenwärtigen Kurs - nur eben etwas anders - weitergehen könne, sind unzeitgemäße Ansätze, die den Turbulenzen des 21. Jahrhunderts nicht mehr standhalten.
Die Hoffnung in der jungen Genereation
Anders die sozialen Medien, in denen der Autor eine potenzielle Kraft sieht, die maßgeblich zur Veränderung beitragen kann. So seien es erst die massenhaft wiederholten und in allen medialen Kanälen gespühlten Videos und Bilder gewesen, die uns die Ausmaße der Umweltverschmutzung - wortwörtlich - vor Augen führten und so dafür sorgeten, dass mitlerweile sogar McDonald´s anfängt auf Plastik zu verzichten.
Lobos Hoffnung ist es, dass die Möglichkeiten der sozialen Medien von einer jüngeren Generation auf eine produktive Weise genutzt werden. Ein Beispiel für solch eine produktive Nutzung sieht Lobo in der „Fridays for Future“ - Bewegung, die sich maßgeblich über WhatsApp organisiert. In einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur sagte der Autor, wenn es um die Lösung unserer Probleme geht, sei uns die jungen Menschen aus seiner Sicht weit voraus. "Die haben sehr viel schneller und produktiver erkannt, wie sich diese Probleme lösen lassen."
"Realitätsschock" ist ein Aufrütteln, kein Wegweiser. Es geht Lobo weniger darum, Lösungen anzubieten, als um die Tatsache, überhaupt klar zu machen, dass es andere Lösungen braucht. Zunächst ist es notwendig, den Realitätsschock überhaupt zu akzeptieren, die Probleme genau zu lokalisieren und zu verstehen. Sich die Kränkung eingestehen. Erst dann ist ein gemeinsames Arbeiten an den richtigen Lösungen denkbar.
Sascha Lobo, Realitätsschock. Zehn Lehren aus der Gegenwart; Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, 352 Seiten, 22 Euro