Die turbulenten Entwicklungen des 21. Jahrhunderts haben den Wunsch nach einer klaren Führung wachgerufen. In seinem Buch "Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung" beschreibt der Soziologe Wilhelm Heitmeyer, was es mit diesen alarmierenden Entwicklungen auf sich hat.
Migration, Umweltzerstörung, Terror, Massenarbeitslosigkeit. Die Entwicklungen und Veränderungen der Welt im 21. Jahrhundert scheinen unvorhersehbar, und daher beängstigend. Bisher legitime und - vermeindlich -nachvollziehbare Weltanschauungen tragen nicht mehr, "gut" und "böse" ist immer schwieriger voneinander zu trennen, und die Menschen flüchten sich folgerichtig, fast instikintiv, in die nächstbeste, sicherheitversprechende Richtung. Ganz gleich, auf welch ideologische Fundamente die Parteien und Machthaber fußen, die dort mit offenen Armen auf sie warten. Diese Fluchtbewegungen könnte man mit Wilhelm Heitmeyers Buch "Autoritäre Versuchungen" nennen. Denn sicherheit- und haltgebene Versprechungen sind nur glaubwürdig, wenn sie von einer Autorität ausgesprochen werden, von der man überzeugt ist, dass sie ebenjene Versprechung auch - ohne Rücksicht auf Verluste - durchsetzten wird. Jeder Kompromiss in der gegenwertigen Welt scheint einer zu viel; scheint nur ein weiterer Schritt auf wackligen Boden zu sein. Haltsuchend wird man nur allzu schnell kompromisslos. Bei Wilhelm Heitmeyer klingt das so:
„Die Sehnsucht nach Sicherheit, die angesichts all dieser Bedrohungen viele Menschen hegen, findet in den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse oft einen regressiven, autoritären Ausdruck und macht die Menschen empfänglich für die entsprechenden autoritären Versuchungen“
"Signaturen der Bedrohung"
Interessant an diesem, unbedingt zu lesenden, Buch ist, dass es dem Autor nicht primär darum geht, ein weiteres Mal all die längst bekannten Probleme zu erläutern, sondern darum, die Spuren und Signaturen zu untersuchen, die diese hinterlassen. Diese Spuren sind auf ökonomischer, politischer, sozialer und individueller Ebene zu finden, und genau hier beginnt Heitmeyer zu analysieren. In 16 Kapiteln entwickelt der Soziologe dabei seine Antworten auf die Frage, wie gewisse "Entwicklungen im ökonomischen System des globalisierten Kapitalismus, im politischen System der Demokratie und im sozialen System der Gesellschaft" dazu führen konnten, dass sich der Wunsch nach Autokratie und das Verlangen nach Bevormundung weitteilig durchsetzen konnte.
Ausgangspunkt ist hierbei der von Heitmeyer sogenannte "autoritäre Kapitalismus", der längst über marktspezifische Gebiete hinausgeht. Beinahe alle Bereiche, mit denen Menschen tagtäglich in Berührung kommen, sind von den Strukturen des "autoritäre Kapitalismus" durchdrungen. Selbstdarstellung, Wahlkampf, Partnerwahl: Die Ökonomie hinerlässt in allen Bereichen ihre Spuren.
AfD: "Autoritärer Nationalradikalismus"
Die Zustimmung zu rechtsgesinnten Parteien und Bewegungen ist mit Sicherheit eine der frappierensten Folgen dieser Entwicklungen. Diese Zustimmung begann bereits vor der sogenannten Flüchtlingskrise. Ein starker Auslöser war - wie Heitmeyer anhand von Zahlen aufzeigt - der internationale Finanzcrash ab 2007, der das rechtsextreme Potenzial sowohl im Osten als auch im Westen zunehmend in die Höhe trieb. Die Flüchtlingswellen ab 2015 waren dann der eskalierende Faktor:
„Dadurch hat sich die emotionale Wucht noch verstärkt, weil zu den ohnehin drängenden Problemen die Unzufriedenheit über ihre fehlende politische Bearbeitung kam... Beide, frustrierte Bürger und politische Akteure, bewegten sich auf der Aggressions- und Eskalationsspirale zunehmend nach oben. Die Mobilisierungsexperten haben in solchen Situationen leichtes Spiel, weil Wut eine hochgradig aktivierende kollektive Mobilisierungsquelle darstellt, die sie mit ‚verbindenden‘ Feindbildern bloß noch zu kanalisieren brauchen.“
Unter anderem die AFD machte es sich zur Aufgabe, die über einen längeren Zeitraum immer stärker frustrierten und nun wutentbrannten Bürger aufzufangen. Ihr Versprechen ist es, eine zu komplex gewordene Welt wieder überschaubar zu machen, und so als ein erdender Akteur aufzutreten. Ein emotionalen Fangspiel, welches in aufgeriebenen Zeiten umso besser funktioniert. Heitmeyer lehnt den Begriff "Rechtspopulisten" als Bezeichnung für die AFD im Übrigen ab, und nennt sie stattdessen eine Partei des „autoritären Nationalradikalismus“. Dass das Sicherheitsversprechen dieser "Nationalradikalisten" per se auf Ausgrenzung beruht, wird allein in ihrer Methodik an vielerlei Stellen deutlich. Beispielsweise in dem unausgesetzten liefern und fördern von Dichotomien (Volk versus Elite, Deutsch-Sein versus Internationalität, Opfer versus fremde Aggressoren).
Leseempfehlung
Die AFD und andere sich nach rechts orientierende Parteien sind nur ein Beispiel in Heitmeyers Analyse. Sind tauchen hier nur als Symptome eines tieferliegenden Problemes auf. Wer die Radikalisierungsvorgänge und deren Gründe genauer verstehen möchte, sollte unbedingt dieses im hohen Maße sozial- und politikkritische Buch lesen. Wilhelm Heitmeyer erinnert uns ein weiteres Mal daran, dass Probleme, die gerade aus der Komplexität einer sich im Umbruch befindlichen Welt entspringen, logischerweise mit keinen einfachen Antworten abgetan werden können. Raus und dicht machen kann keine Lösung sein, insofern man sich die Mühe macht, nach dem danach fragen.
Wann immer man auf Parteien oder andersweitigen Bewegungen stößt, die solch einfache Antworten liefern, ist Vorsicht geboten. Denn eben hier spielen die Parteien mit den "autoritären Versuchungen", deren Entstehungsgeschichten in diesem Buch beleuchtet werden.
Wilhelm Heitmeyer - Autoritäre Versuchungen. Signaturen der Bedrohung, Suhrkamp Verlag, 2019, 394 Seiten, 18 Euro