In meinem Innersten bin ich sehr froh darüber, nicht mehr jeden Tag daran erinnert zu werden, dass ich wegen meines wirklichen Jobs in einem Käfig aus Lügen lebe. Jahrelang hat mich diese Tatsache bedrückt. Erst weit weg von der Heimat, meiner Familie und den Freunden kann ich meiner Arbeit nachgehen, ohne ständig Angst davor zu haben, dass meine Liebsten erfahren, was mein wahrer Beruf ist. Ich annonciere in der englischsprachigen, griechischen Wochenzeitschrift ‚Athens World‘ als attraktive, charmante Lady aus Deutschland, die einen großzügigen Herrn kennenlernen möchte. Durch diese Anzeige war es ganz einfach, Kundschaft zu bekommen. Im Juli habe ich ein griechisches Bankkonto eröffnet und ein Schließfach gemietet, um mein Selbstverdientes sicher aufzubewahren. Mittlerweile habe ich auch eine private Krankenversicherung abgeschlossen, über die ich weltweit versichert bin. Die ist sehr wichtig, damit ich im Falle eines Unfalls oder einer schweren Krankheit nicht an mein Erspartes muss. Denn das soll mir einen angenehmen Lebensstil verschaffen und mir meine finanzielle Zukunft sichern! – Mein soziales Umfeld besteht momentan hauptsächlich aus zwei Kolleginnen und meiner Kundschaft. Weder die Hotelangestellten noch die Bediensteten in meinen Stammlokalen wissen, was ich in Athen mache. Für die meisten, die mich regelmäßig sehen, bin ich eine Fremde, eine Touristin oder einfach nur ‚die Deutsche‘. Dem Inhaber des Joannis Hotels habe ich erzählt, ich hätte eine Erbschaft gemacht und wolle eine Zeitlang das Leben an der Küste Griechenlands genießen. Daraufhin gab es keine weiteren Fragen.
Das Joannis Hotel ist über dreißig Jahre alt und renovierungsbedürftig, – aber es genügt meinen momentanen Ansprüchen. Es hat einen Aufzug und auf meinem Zimmer habe ich Internetzugang, eine Klimaanlage, einen Kühlschrank und einen Fernseher. Mit dem speziell ausgehandelten Tagespreis von 25 € pro Tag, kann ich es mir ohne weiteres leisten, hier zu wohnen. Außerdem liegt das Joannis Hotel nur knappe zweihundert Meter von der Plateia-Glyfada entfernt, wo es Taxistände, eine Tram, mehrere Bushaltestellen, Lebensmittelgeschäfte und zum Glück auch Parkplätze gibt! – Die sind wichtig, weil ich von meinem letzten Deutschlandbesuch im September ein Auto mitgebracht habe. Einen Gebrauchtwagen mit Klimaanlage und Navigationsgerät. Vereinzelt höre ich hier und da einen Silvesterböller knallen. Es sind nur noch zwei Minuten bis zum Neuen Jahr. Langsam ziehe ich die Champagnerflasche aus dem Eiskühler und lasse das Wasser abtropfen. Ich habe allen Grund das letzte Jahr voller Dankbarkeit zu verabschieden: Ich habe mich gut in diesem fremden Land und dieser großen Stadt eingelebt und mein Geschäft blüht. Mein monatliches Einkommen beträgt zwischen 5000 € und 6000 €. – Noch in Gedanken versunken sehe ich, wie eine Feuerwerksrakete den dunklen Nachthimmel mit seinem bunten Farbenregen erhellt und fast zeitgleich mit dem Jahreswechsel entkorke ich die Flasche Moet und schenke mir das köstlich, prickelnde Getränk in die eigens für den heutigen Anlass gekaufte Champagnerschale. „Prosit Neujahr, Ilona!“, flüstere ich glücklich und hebe mein Glas. Ich trinke einen Schluck, stehe auf und stütze mich mit den Ellbogen auf die Balkonbrüstung. Die ganze Welt um mich herum scheint meine Hochstimmung zu teilen. Mir ist, als sei ich der Mittelpunkt dieser Feierstimmung, in der ein gigantisches Feuerwerk den Himmel über mir erhellt. Als es ein paar Minuten später verebbt, ziehe ich meinen Schal etwas enger um den Hals. Eine leichte Brise vom Meer her lässt mich kurz frösteln. Aber nicht frieren. Gefroren habe ich in Athen bisher nicht. Auch im Winter spendet die Sonne noch reichlich Wärme. Sie erhellt nicht nur den Tag, wie in nördlichen Gefilden. Und das schätze ich sehr.