Bücher zur Krise Wie die Franzosen den Frust aufarbeiten

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Die ab 2015 als "Krise" eingestuften Flüchtlingswellen verdeutlichten Probleme in Europa, die bis zu diesem Zeitpunkt weitestgehend im Verborgenen schlummerten. Was aufgeweckt wurde, waren sogenannte "Wutbürger", Rassismen und Fremdenfeindlichkeit. Dieser Artikel wirft einen kurzen Blick auf einige daraus resultierende Bücher in Deutschland und Frankreich.

Die "Flüchtlingskrise" brachte ans Tageslicht, was sich lange Zeit nur sporadisch und unter Ausschluss der Öffentlichkeit zeigte. Wie geht die Literatur mit diesem Thema um? Foto: pixabay

"In der Kampfzone. Deutschland zwischen Panik, Größenwahn und Selbstverzwergung", hallt es von irgendwo her. Dann: "Die Erfindung der bedrohten Republik. Wie Flüchtlinge und Demokratie entsorgt werden". Eine kurze Pause, und weiter: "Wie tickt Deutschland? Psychologie einer aufgewühlten Gesellschaft". Die "Flüchtlingskrise" hat in Deutschland unzählige Bücher hervorgebracht, in denen eine "aufgewühlte" und konfuse Gesellschaft beschrieben und anlysiert wurde. Gezeigt wird ein überfordertes Land, geschürt werden Zweifel an den politischen Entscheidungen dieser Tage. Weit oben in den Fünf-Sterne-Bewertungen der Amazonliste steht Alice Weidels Buch "Widerworte: Gedanken über Deutschland", in dem die Co-Vorsitzende der AFD-Bundestagsfraktion auf politische "Fehlentwicklungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte" hinweist, die ihrer Meinung nach stattgefunden haben. All diese Bücher haben eines gemeinsam: Provozierende, Ängste schürende Titel, polemische, verkaufstaugliche Headlines. Sie alle scheinen den in der Bevölkerung herrschenden Unmut, die am Wegesrand deutscher Straßen lungernden Zweifel aufgesaugt, und auf eine knackige Überschrift komprimiert zu haben. Sie alle ergeben sich somit einem Prinzip, welches sich in den Facebook-Kommentarspalten immer wieder bewert hat: Aufregen erweckt Aufsehen, und Aufsehen bedeutet Kapital.

Die Reise zur Ursache

Man kann diesen reaktiven und zum Teil reaktionären, deutschen Büchern problemlos einige französische Literaten entgegenstellen, die mit dem deutlich werdenen Frust der europäischen Bevölkerung anders umgehen. Bereits die Titelwahl zeigt dabei einen Unterschied auf. Da wäre beispielsweise der autobiografische Essay "Wer hat meinen Vater getötet" von Eduard Louis. Oder die "Rückkehr nach Reims" von Didier Eribon. Erst kürzlich erschien in Deutschland die Übersetzung des Romans "Wie später ihre Kinder" von Nicolas Mathieu. Es sind Bücher, die den deutschen Vertretern aus soziologischer Sicht um nichts nachstehen. Statt aber mit dem Finger deutlich auf ein Probem zu deuten, welches ohnehin in den Sozialen Netzwerken nicht übersehen bzw überhört werden konnte und kann, verstanden die Franzosen den Umstand, dass die mit der "Flüchtigskrise" ins Land gekommenen Probleme bereits längst im Land waren. Es handelt sich nicht um hineingetragende Ängste. Man wird nicht erst dann Rassist, wenn es plötzlich etwas zu "verteidigen" gilt, ebensowenig wie man Feminist wird, weil plötzlich über sexuelle Übergriffe gesprochen wird.

Frust der Arbeiterklasse

In "Wer hat meinen Vater getötet" setzt sich der junge Franzose Eduard Louis mit der Arbeiterklasse auseinander. Fremdenfeindlichkeit, Homophobie, und ein sich über Generationen hinweg entwickeltes und gefestigtes Männerbild spielen hierbei eine bedeutende Rolle. Die Bewegung der Gilets jaunes (Gelbwesten) gibt den Buch ein politisches Fundament. Louis steht der Bewegung positiv gegenüber. In seinem Buch gibt er dem Frust, der mit den Demonstrationen ans Tageslicht gekommen ist, eine Geschichte.

In gewisser Hinsicht baut Louis damit auf Didier Eribons Erzählung "Rückkehr nach Reims" auf. Eribons soziologische Erzählung über seinen Herkunftsort Reims ist zugleich eine Analyse des Entwicklungpotentials politischer Motivationen von Links bis Rechts. Der Front National hat in Frankreich (vergleichbar mit der AFD in Deutschland) erschreckend viel Zulauf bekommen. Eribon sucht in seinem Buch die Gründe des politischen Umschlages. Und auch hier spielt eine frustrierte Arbeiterklasse die Hauptrolle.

Schließlich erzählt auch Nicolas Mathieu (ähnlich wie Louis und Eribon) eine Geschichte der Marginalisierten, der Abgehängten. "Wie später ihre Kinder" spielt im Frankreich der 90er Jahre, in einem Tal, irgendwo am Rand. Anhand der Schicksale dreier Jugendlicher, zeigt Mathieu dabei auf, wie aus Langeweile Wut werden kann, die sich in kleinkriminellen Akten und unter anderem auch in der Wahl des Front National äußert.

"Er spürte es in der Brust, im Bauch. Das Leben würde weitergehen. Das war das Schlimmste. Das Leben ging weiter. Er legte sich noch nass ins Bett und schlief sofort ein." (Zitat aus "Wie später ihre Kinder")

Herangezüchteter Hass

Bücher wie "In der Kampfzone. Deutschland zwischen Panik, Größenwahn und Selbstverzwergung" stehen also einer Art und Weise des Erzählens gegenüber, die nicht nur versucht gegenwärtig politische Entscheidungen hinsichtlich der Flüchtlingskrise an den Pranger zu stellen, sondern darüber hinaus auf jahrzehnte lang andauernde soziologische Prozesse hinzuweisen, die jenen Hass, auf den wir heute unausgesetzt stoßen, vorbereitet haben. Mit dieser anderen Lesart der "Katastrophe" wird von dem Fremden als eindringende und aufwühlende Kraft abgesehen, und die Problematik woanders verortet.

Ressentiments und Vorurteile können nur dort entstehen, wo Anschauung und Auseinandersetzung fehlen. Die eigentliche Katastrophe, und dies machen uns die genannten Beispiele der französischen Schriftsteller klar, ist, dass dieses Fehlen von politischer Seite her jahrzehnte lang hingenommen und aufrechterhalten wurde. Daher: Reißt den Leuten die Weidels aus den Händen und reicht ihnen die Eribons.


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