Nach seinen zehn bevorzugten Wörtern befragt, antwortete Albert Camus: "Die Welt, der Schmerz, die Erde, die Mutter, die Menschen, die Wüste, die Ehre, das Elend, der Sommer, das Meer." In ihrer Camus-Biografie zeigt Iris Radisch einen Intellektuellen, der auf der Suche nach dem "Ideal der Einfachheit ist".
Die oben genannten zehn bevorzugten Wörter, werden in dieser, von Iris Radisch verfassten, Albert Camus-Biografie zu den zehn Kapiteln, die uns durch das Leben eines Schriftstellers führen, der zu den bedeutensten des 20. Jahrhunderts zählt. Es ist die Geschichte eines jungen Mannes, der, in einem der ärmlichsten Viertel Algiers mit einer wortkargen Mutter aufgewachsen, zum Pariser Intellektuellen avanciert. Es ist auch eine Geschichte des Unglücks, der Überwerfungen und des Verzichts.
Der Mythos des Sysyphos, das Schweigen der Mutter
Kaum ein Schriftsteller hat so sehr gelebt, was er geschrieben hat. Und umgekehrt. Camus, der Schriftsteller des Absurden, der in seinem ersten großen Essay "Der Mythos des Sisyphos" von einer Welt erzählt, die den großen Fragen der Menschheit mit einem Schweigen begegnet. Er selbst, vaterlos, ist mit einer schweigsamen Mutter aufgewachsen, die er so sehr idealisiserte, dass sie sich in ebenjenen großen Essay als ganze Welt wiederfinden lässt. Der erste berühmte Satz dieses Schlüsselwerkes der existenzialistischen Nachkriegsphilosophie lautet: "Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord." Die daraus resultierende Frage, "ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden", durchzieht die gesamte Schrift; die Antworten, die Camus im Laufe seiner Analyse findet und erläutert, werden, generationsübergreifend, millionen Menschen auf ihren Lebenswegen begleiten.
Äußerst einfühlsam erläutert Iris Radisch den Weg des jungen Camus, der aus der Schweigsamkeit Algiers heraus, hinein in die ersten Veröffentlichungen und somit in die Pariser Intelektuellen-Kreise führt. Die Zusammenhänge zwischen Leben und Schreiben werden dabei deutlich, ohne das es besondere Fingerzeige zur Erklärung bedarf. Es sind die Umstände, unter denen Camus in dem Armenviertel Belcourt heranwächst - die Einfachheit der körperlichen Arbeit, die Rauheit der Hände, das Rauschen des Meeres, die ehrliche Kargheit des gesprochenen Wortes - die er später als die Idealumstände eines geglückten Lebens bezeichnen wird. Dazwischen aber, liegt Paris.
Der Mensch in der Revolte, das kalte Paris
Unter dem 6. Kapitel - "Die Welt" - findet wir ein Paris unter deutscher Besatzung, und ein Camus, dem das Toben der Großstadt die Hölle ist. "Was soll dieses plötzliche Erwachen - in diesem dunklen Zimmer - begleitet von den Geräuschen einer unvermittelt fremd gewordenen Stadt?" wird er an dieser Stelle zitiert. Radisch beschreibt, unter welchen Umstände der "einzigartige Ton" in Camus ersten Roman "Der Fremde" zustande kommen konnte. Freundschaftliche Beziehungen und Einflüsse werden ausführlich erleutert, ebenso wie die veränderte Umgebung, mit der eine völlig neue Art der Sprache im Raum steht, die Camus niemals so glänzend beherrschen wird, wie es etwa sein späterer Gegenspieler Sartre tut, der mehr oder weniger in die Pariser Intellektuellen-Welt hineingeboren wurde.
Die Großstadt verändert Camus. Hatte Sartre den Roman "Der Fremde" noch als eines der großen Werke des Existenzialismus gefeiert, verhärten sich allmählich die Positionen. Eine Wirkliche Freundschaft zwischen den beiden, bis heute als Hauptvertreter ebenjener philosophischen Strömung genannten, Autoren gab es im Grunde nie. Die Grundzüge ihres Denkens wurzeln in völlig unterschiedlichen Gebieten. Eines der Herzstücke dieser Biografie ist die Gegenüberstellung dieser Gebiete. Sartre - Camus, dass heißt auch: Die schnellen, schrillen Einflüsse einer Großstadt, im Vergleich zur stummen Monotonie der Provinz.
Als Camus zweiter und letzter großer Essay "Der Mensch in der Revolte" erscheint, wird dieser von der Pariser Intellektuellen-Szene rund um Sartre schlichtweg verissen. Camus verstehe die meisten der darin angeführten Philosophen überhaupt nicht und sei völlig inkompetend in seinen Analysen, heißt es. Als Philosoph wird er, Camus, in diesen Tagen endgültig diskreditiert; ungeachtet der Tatsache, dass sich Camus selber niemals als Philosoph, sondern vielmehr als Künstler, als Schriftsteller verstanden hatte. Die Ereignisse spitzen sich zu, und schließlich rückt die schon lang auf dem Plan stehende Reise immer näher.
"Das Geheimnis, das ich suche, ist in einem Tal mit Olivenbäumen vergraben, unter dem Gras und den kühlen Veilchen, bei einem alten Haus, das nach Weinranken duftet."
Das Ideal der Einfachheit
"Albert Camus. Das Ideal der Einfachheit" erzählt die Geschichte eines dramatischen Lebens und zeigt einen Schriftsteller, dem, wie Iris Radisch anführt, die Zeitläufe Recht gaben. Der von Camus zu Lebzeiten immer wieder gepriesende Antitotalitarismus stieß bei den Pariser Linken immer wieder auf heftigsten Widerstand: Camus versuche nur, den gegenwärtigen Problemen zu entfliehen, und verscuhe sich in einen utopischen Moralismus zu retten. Noch lange nachdem der Autor bei einem tragischen Autounfall im Alter von 47 Jahren ums Leben kam, machte man sich immer wieder lustig über ihn.
Das Camus und jedes einzelne seiner Werke - von "Mythos des Sisyphos" über den "Fremden" bis hin zur "Pest" - aktueller denn je sind, wird einem während der Lektüre dieses Buches nicht entgehen können. Wünscht man sich beizeiten doch vergeblich einen solchen überzeugten Moralismus, der sich dieser ironischen Zeit bewaffnet und kompromisslos gegenüberstellt. Für seine Überzeugungen wurde Camus seinerzeit häufig verlacht und ausgegrenzt; für seine Überzeugungen sind wir ihm bis heute dankbar.
Iris Radisch - Albert Camus. Das Ideal der Einfachheit; Rowohlt Verlag, 352 Seiten, 12, 99 Euro