In ihrem Roman "Eine Welt in den Händen" zeichnet die französische Autorin Maylis de Kerangal das Bild einer jungen Frau, die ihr wohl behütetes Zuhause verlässt, um in Brüssel das Handwerk der Dekorationsmalerei zu erlernen. Der Roman zeigt, wie leicht oder schwer sich leben lässt, was man Traum nennt.
Nach dem mittelmäßigen Abitur zwei Jahre Orientierungsphase, dann kurz Jura studieren, dann auf die Kunsthochschule, Videos drehen, schneiden; doch all das mit nur wenig Ambitionen. Den Gegenstand ihrer Obsession hat Paula noch nicht gefunden, sie irrt durch die Hörsäle, und wartet vergebens auf das Einsetzen einer Begeisterung. Diese lässt tatsächlich nicht lange auf sich warten. Und sowohl Paula, als auch ihre Eltern Guillaume und Marie Karst scheinen erleichtert, als das Mädchen damit beginnt, sich brennend für Dekorationsmalerei zu interessieren.
Der Vater fährt sie nach Brüssel, hier befindet sich die angesehende Malereischule. Paula bezieht eine Zwei-Zimmer-Wohnung, die sie sich mit Jonas teilt, der ebenfalls die sechsmonatige Ausbildung durchläuft. Der Vater liefert seine Tochter ab, und verschwindet ungewöhnlich schnell, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen.
Weg von der Familie, in eine ungewisse Zukunft
In der Winkbewegung des Vaters entpuppt sich ein inhaltlich wichtigstes Motiv des Romans: "Eine Welt in den Händen" ist eine Coming-of-Age-Geschichte, in der geschildert wird, wie sich ein junges Mädchen der Welt übergibt; sich aus familiären Zwängen löst, um von fremden Zwängen in Empfang genommen zu werden. Diese fremden Zwänge beschreibt Maylis de Kerangal anhand der globalen Kunst- und Kunsthanderkswelt, in der unzählige Zuarbeiter als namenslose Randnotizen enden.
Im Mittelpunkt dieses Kampfes weg vom Rand, steht immer wieder die Frage nach der Bedeutung der Kunstnachahmung. An einer Stelle des Buches äußert Jonas den bemerkenswerten Satz "Wer ist denn so blöd, dass er noch Menschen will?", welcher, wie man denken mag, einen tieferen, vielleicht philosophischen Diskurs einleiten könnte, aber leider nicht weiter verfolgt wird. In jedem Fall aber klingt hier eine desillusionierende Facette an, denn im Grunde ist man sich sicher: Das Handwerk der Dekorationsmalerei wird in Zukunft ersetzbar sein, die Malerei nicht, und selbst die namenlosen Zuarbeiter werden zukünftig verschwinden.
Kunst, Coming-of-Age, Naturgeschichte
Im Winter 2007/2008 erlernen die Auszubildenden das Malereihandwerk, lernen, wie mit Farbe und Material umzugehen ist, sowie die Erkundung und Erforschung von Gegenständen, einen erfassenen, kompositorischen Bilck. Als dann die ersten Aufträge zu erledigen sind, bleiben sie in Kontakt. Rom, Berlin, Glasgow, New York die Malerei treibt sie um die Welt. Erst im Januar 2015 treffen sie sich wieder.
Diese Reiseepisoden nutz die Autorin sogleich, um den Leser ein Stück weit durch die Naturgeschichte zu führen. Sie führt uns in ein tropisches Europa, welches 370 Millionen Jahre zurück liegt, und zeigt uns, wo sich einst Marmor gebildet hat. Sie führt uns in die Höhle von Lascaux, die 20.000 Jahre unter Verschluss stand, bevor sie, kurz nach dem zweiten Weltkrieg, dem Massentourismus zum Opfer fiel.
Die Naturgeschichte ist, neben der Erzählung des Erwachsen-Werdens und einer Betrachtung der Kunst, die dritte Achse des Romans. „Eine Welt in den Händen“ ist unterhaltsam geschrieben und gewährt einige interessante Einblicke. Immer dann jedoch, wenn man sich tiefere Einblicke, eine nächste Ebene wünscht, rast die Autorin hastig weiter und lässt so einige Motive unausgeschöpft liegen.
Maylis de Kerangal, Eine Welt in den Händen; aus dem Französischen von Andrea Spingler, Suhrkam Verlag, 270 Seiten, 22 Euro
Topnews
Ein Geburtstagskind im März: Christa Wolf
Bertolt Brecht – Geburtstagskind im Februar: Ein literarisches Monument, das bleibt
Wie Banksy die Kunst rettete – Ein überraschender Blick auf die Kunstgeschichte
Ein Geburtstagskind im Januar: Franz Fühmann
Zauberberg 2 von Heinz Strunk
100 Jahre „Der Zauberberg“ - Was Leser heute daraus mitnehmen können
Oschmann: Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung“ – Umstrittene russische Übersetzung
Überraschung: Autorin Han Kang hat den Literaturnobelpreis 2024 gewonnen
PEN Berlin: Große Gesprächsreihe vor den Landtagswahlen im Osten
„Freiheitsschock“ von Ilko-Sascha Kowalczuk
Precht: Das Jahrhundert der Toleranz
Jenny Erpenbeck gewinnt Internationalen Booker-Preis 2024
Karl Ove Knausgård: Das dritte Königreich
Romanverfilmung "Sonne und Beton" knackt Besuchermillionen
Asterix - Im Reich der Mitte
Rassismus in Schullektüre: Ulmer Lehrerin schmeißt hin
14 Nominierungen für die Literaturverfilmung "Im Westen nichts Neues"
"Die Chemie des Todes" - Simon Becketts Bestsellerreihe startet bei Paramount+
Michel Houellebecq und die "Aufstachelung zum Hass"
J.K. Rowling: "Böses Blut" im Sturm der Anklage
Die Sprache entspringt der Todesnähe
Coming of Age: Erst der Tod bewegt zum Tanz
Ein zum sterben schönes Gemälde
Einer, der das Verschwinden begehrt
Schmerz, Tod, Wut: Ein Virus weckt subversive Kräfte
Hochkultur im Taxi
Ein Autor der Neuen Rechten?
Der Weg ins andere Ich
Das zerbrochene Inselreich
Der Fluch des alten Grand Hotels
Das Familiengeheimnis im Schuhkarton
Das Leben eines Teenie-Models: Ware Mensch oder wahrer Mensch?
Flammende Winterpilze und eine Nonne mit wallendem Bart
Gestatten: Mein Name ist Tomti, Baumgeist Tomti!
Aktuelles
„Die Möglichkeit von Glück“ – Anne Rabes kraftvolles Debüt über Schweigen, Schuld und Aufbruch
Für Polina – Takis Würgers melancholische Rückkehr zu den Ursprüngen
„Nightfall“ von Penelope Douglas – Wenn Dunkelheit Verlangen weckt
„Bound by Flames“ von Liane Mars – Wenn Magie auf Leidenschaft trifft
„Letztes Kapitel: Mord“ von Maxime Girardeau – Ein raffinierter Thriller mit literarischer Note
Drachen, Drama, Desaster: Denis Scheck rechnet mit den Bestsellern ab
UNESCO und IBBY sammeln Werke in indigenen Sprachen
Mario Vargas Llosa ist tot –Ein Abschied aus Lima
Denis Scheck ist am 13. April zurück mit „Druckfrisch“
Zwei Fluchten, zwei Stimmen – und dazwischen das Schweigen der Welt
Good Girl von Aria Aber – eine Geschichte aus dem Off der Gesellschaft
Guadalupe Nettel: Die Tochter
"ttt – titel thesen temperamente" am Sonntag: Zwischen Wehrpflicht und Widerstand – Ole Nymoen im Gespräch
„Größtenteils heldenhaft“ von Anna Burns – Wenn Geschichte leise Helden findet
Siegfried Unseld und das Schweigen: Eine deutsche Karriere
Rezensionen
Ein grünes Licht im Rückspiegel – „Der große Gatsby“ 100 Jahre später
"Neanderthal" von Jens Lubbadeh – Zwischen Wissenschaft, Spannung und ethischen Abgründen
Rezension: „In der Gnade“ von Joy Williams – Ein literarischer Geheimtipp über Verlust, Glaube und das Erwachsenwerden
