In den Neurowissenschaften arbeitet man bereits an der Erforschung von Gedankenübertragung. Peter Høeg („Fräulein Smillas Gespür für Schnee“) übernimmt Teile dieser Thematik in die Literatur und schreibt mit "Durch deine Augen" einen Roman, in dem das Teilen des Bewusstseins thematischer Leitfaden wird.
Wer hatte sich nicht schon einmal gewünscht, die Welt durch die Augen eines anderen sehen zu können? In seinem neuen Roman "Durch deine Augen" verschränkt der dänische Schriftsteller Peter Høeg diesen Wunschgedanken mit verschiedenen Ebenen des fiktiven Erzählens. Hier wird der Wunsch zur Wirklichkeit. Und was bekommen wir zu sehen? Erinnerungen, Ängste und Zwänge.
Bewusstseins-Hologramme
Wir beginnen mit einem Besuch in der psychatriaschen Klinik. Ich-Erzähler Peter besucht dort seinen Pflegebruder Simon, der, nachdem er sich versucht hatte das Leben zu nehmen, eingeliefert wurde. Um ihm zu helfen beschließt Peter, Kontakt zu Lisa aufzunehmen, die als Wissenschaftlerin das streng bewachte "Institut für neuropsychologische Bildgebung“ leitet und dort geheime Experimente durchführt.
Mittels Hirn- und Körper-Scans, sowie dem Verabreichen von psychogenen Drogen, kann hier das menschliche Bewusstsein in Hologrammen sichtbar gemacht und mit den Probanden geteilt werden. So erhält Lisa Einblick in die Erinnerungen, den Ängsten und den Zwängen der therapierten Personen, und kann diese gemeinsam mit ihnen noch einmal durchleben und lesen. Die Idee dahinter: das Leben im Rückblick anders "erzählen".
Peter scheint von dieser Art des Experimentierens so begeistert zu sein, dass er - nicht Simon - bald schon Dauergast im Institut wird. Gemeinsam mit Lisa taucht er in traumatische Erfahrungen ein. Erfahrungen, die von schwerem Kindesmissbrauch, von Inzest, von schrecklichen Kriegserfahrungen zeugen. Der Leser taucht hierbei, durch die voyeuritischen Augen Perters, in die Seelenabgründe der Probanden ein.
"Club der schlaflosen Kinder"
Auf einer zweiten Erzählebene erfahren wir, dass Lisa, Peter und Simon bereits im Kindergarten eng befreundet waren. Gemeinsam bildeten sie dort den "Club der schlaflosen Kinder" und versuchten bereits im Kindesalter, an die Träume anderer zu gelangen um so Zukunft und Vergangenheit zu beeinflussen. Aufgrund des Unfalltodes ihrer Eltern, kann sich Lisa an diese gemeinsame Zeit jedoch nicht mehr erinnern. 30 Jahre später erst, treffen die drei nun wieder aufeinander. Und noch immer scheinen sie von dem selben Interesse geleitet zu sein: das Bewusstsein anderer Personen zu erforschen.
Nichts ist sicher!
"Durch deine Augen" ist eine skurile Geschichte imposanter Verknüpfungen, in der Peter Høegs Recherchen aus dem Bereich der Neurowissenschaften literarisch verarbeitet werden. Eine metafiktionales Erzählen, welches nicht nur einzelne Perspektiven, sondern auch das Durch-Die-Augen-Blicken selbst verschiebt, und somit auch die Thematik des fiktionalen Schreibens hinterfragt (all die Blicke sind letzlich ein Blick, der Blick Peter Høegs). Die Grundfrage danach, was es beudetet, Gedanken, Ängste und Zwänge fremder Personen in Erfahrung bringen zu können, schwingt dabei immer leise mit - und dies nicht nur im positiven Sinne.
Letzlich ist dies auch eine Geschichte der Unsicherheit, der Manipulation. Peter selbst wittert, während den endlosen, mit Lisa im Labor geführten Gespräche, die Gefahr der Manipulation. Somit legt Høeg die komplexe Verschachtelung der Psyche dar, erklärt, dass, auch wenn alles im nachhinein einsehbar, so doch zwischenmenschlich nichts sicher ist.
Peter Høeg, Durch deine Augen, Carl Hanser Verlag, 336 Seiten, 24 € (Kindl: 17,99 €)
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