Enis Maci hat mit Eiscafé Europa ein Buch geschrieben, welches eine ungefähre Vorstellung davon gibt, wie essayistisches Arbeiten gegenwärtig möglich ist. Wikipediaeinträge, Instagram- und Twitteraccounts werden dabei zu Quellenangaben, auf deren Grundlage sich die Autorin mit Rassismus, Sexismus und den politischen Fragen unserer Zeit auseinandersetzt.
Essays der Gegenwart
Es ist der Versuch, Widerstand zu zeigen, im Fragen danach, ob und wie Widerstand (noch) möglich wäre. Es ist also kein: "Ich bin dagegen, mal eben", es ist ein "mal eben gabs ja auch schonmal, verdammt, schön wars, aber weiter jetzt". Es ist ein Abtasten der digitalen Welt, in der nach jeder Bewegung ein neues Fenster aufzuploppen scheint, mit welchem es gilt, fertig zu werden. Und gleich zu Beginn dieser herausfordernden Unternehmung verlinkt uns Enis Maci mit dem Begriff der Weigerung: "...das Gefecht ist die Folge von Weigerungen, die unweigerliche." Zu welchen Waffen aber greifen, um diese Weigerung zu vollziehen, um sie durchzuhalten? Vielleicht, so ein Vorschlag der Autorin, zur Umverteilung der Gebärfähigkeit, die eine Waffe sein kann, denn "Solange sie, und nur sie, fähig ist zu gebähren, steht die Frau unter dem Joch Gottes und des Mannes."
Überlegungen wie diese, den strukturellen Sexismus betreffende, ziehen sich durch das gesamte Buch, sind aber insbesondere Thema des ersten Kapitels, welches die Überschrift " Jungfrauen" trägt. Immer wieder binden sich (auch dies methodisch, das gesamte Buch betreffend) kurze, persönliche Geschichten und Erfahrungen der Autorin in diese Reflexionen ein. So auch das titelgebene Eiscafé Europa, in welchem die Autorin oft als "Mädchen" mit ihrer Mutter und dessen Freundin Bleta saß, und Beobachtungen zum "Frau-Sein" anstellte. Hier finden sich diese Beobachtungen in flektierter Form nun wieder.
Instagram-Accounts als Quellenangaben
Sind es ihre persönliche Erfahrung, die Enis Maci als Quelle ihrer anfänglichen Betrachtungen verwendet, so sind es Instagram-Accounts und Twitter-Beiträge, die ihr für die Analysen öffentlicher Personen dienen. Über Melanie Schmitz (Mitglied im identitären Verband "Kontrakultur Halle") heißt es da beispielsweise: Sie mimt "die Nazikriegerin, den radikalen Wirrkopf, der auch schon mal über sexy Untersturmführer und die Unmöglichkeit eines Deutschtums ohne Blutsbande philosophierte". Oder: "Sie schaffts es, die richtigen Filter zu verwenden". Was sonst könnte man sich unter einer zeitgemäßen Betrachtung vorstellen, wenn nicht dies: Das Hauptaugenmerk auf die Art und Weise der Selbstrepräsentation im Netz richten. Enis Maci trifft eben genau damit den ausschlaggebenen Punkt, hinterfragt Taktiken und Metoden der Selbstdarstellung, weiß um die Macht des Bildes, um die lockende Kraft der Szenerie. Das ist kein Zufall. Maci selbst ist Dramatikerin und hat bereits einige eigene Arbeiten szenisch umgesetzt. Das auch das Internet eine Art Bühne darstellt, dessen ist sich die junge Autorin bewusst, und auch das diese Bühne intensiv von neurechten Vereinigungen und Protagonisten bespielt wird ist ihr nicht entgangen. Auch hier gilt es, die Weigerung zu hinterfragen.
In allen Richtungen, richtungslos
Nicht nur die Frage nach der Arbeitsweise einer Widerständigen Autorin, auch die Frage nach den Möglichkeiten des Schreibens selbst sind ein wichtiger Teil des Buches. Im Kapitel "Der Literatur ihr Theremin" etwa, wird das Schreiben mit jenem, Anfang der 20er Jahre erfundenen Musikintrument - dem Theremin - in Verbindung gebracht, welches berührungslos gespielt werden kann. Jede Handbewegung - ungeachtet der Richtung - spielt hierbei eine Rolle, da jedes Bewegen auch Klang werden kann. Enis Maci rudert plötzlich zurück, wenn sie, in der zweiten Hälfte des Buches plötzlich wieder an die Anfangsfrage erinnernd, schreibt: "Wie könnte eine folgenreiche Weigerung aussehen? Was könnte sich aus der unwillkürlichen Ablehnung, die wir empfinden, ergeben?."
Es ist diese Richtungslosigkeit, die das Buch wie befreit erscheinen lässt. Es sind die kurzen Momente, in denen Befreiung zu einer Umschreibung für einen Zustand wird, der es zulässt, von jedem Punkt aus in allen Richtungen rudern, in allen Richtungen denken zu dürfen.
So versammelt "Eiscafé Europa" Schriftbruchstücke, die, aneinandergelegt, den Anschein erwecken, da hätte jemand seine letzten 200 Tabs nicht geschlossen. Nicht aus einer überforderten Unlust heraus, sonder im Bewusstsein, das jeder Tab auch immer eine potenzielle Waffe, feder Pfad, jeder Link bedenkenswert ist. Wir alle stehen auf dieser Bühne, sind zugleich aber für die Beleuchtung einzelner Szenen verantwortlich. Wie widerständig beleuchten? Wie widerständig bewegen? Eine Anleitung zum richtigen Handeln ist das Buch nicht, sondern, letztlich, selbst eine beispielgebene Handlung.
Enis Maci, Eiscafé Europa, Surhkamp Verlag; 240 Seiten, 16 €
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