Die französische Essayistin Nathalie Quintane unternimmt mit "Wohin mit den Mittelklassen?" den Versuch, jene Bevölkerungsgruppe zu defenieren, der sie selbst angehört: die Mittelschicht. Ambitioniert durchfährt sie dabei Gebiete wie Abstiegsängste, Kulturverständnis und Ressentiments. Sind die Mittelklassen eine Gefahr für die Demokratie?
Wohin mit den Mittelklassen? Im Fall nach oben schauend
"Die Mittelklasse" - Das ist ein flottierender Begriff, der sich fortgehend transformiert, anpasst, verändert. Es gab Zeiten, da gab es ihn überhaupt nicht, oder es fehlte die nötige Mühe, eine passende Bevölkerungsschicht zu finden, die ihn füllt. Was oder wo die Mittelschicht im 21. Jahrhundert sein könnte, dies versucht die Schriftstellerin Nathalie Quintane in ihrem Essay "Wohin mit den Mittelklassen" zu umreißen. Eine kurze, übersichtliche Arbeit, die nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich brilliert, und zwangsläufig zur Selbstverortung führt. Dies allein aus dem Grunde, da die Autorin hierbei - mal literarisch, mal soziologisch - über ihre eigene Klassenzugehörig schreibt.
Die Mittelschicht / Das Ressentiment?
Quintane beginnt mit der Aufzählung einiger Zuweisungsmethoden, die in der Vergangenheit vorgebracht wurden, um jene mittleren Klassen zu definieren. Das sich diese Modelle über längere Zeit nicht halten konnten, beweist - unter vielen anderen - auch die Arbeit der Autorin selbst: "Einkommen, Berufe, Linien, Metaphern und Informationen reichen also nicht vollständig aus, um die Mittelklassen zu definieren. Das war absehbar." heißt es da etwa. Und auch weitere Ansätze schlugen fehl. Die Mittelklasse, bemerken wir bald, ist ein komplexes, vermientes Gebiet, auf dem sich Wut, Angst, Hoffnung und Ressentiments vermischen. Sie schwebt, in der Mitte des Bildes, frei in der Luft, wohingegen Ober- und Unterschicht immer relativ exakt einzuordnen sind.
Vor allem die Haltung des Ressentiments wird den Mittelklassen oft vorgeworfen. Daher versucht Quintane nun (mithilfe von Guy Debord und Friedrich Nietzsche, die ebenjene Vorwürfe auch vorbrachten) herauszufinden, "ob sich das Ressentiment in eine Revolte verwandeln könnte...". Kann die Mittelschicht aufständisch werden? Können Jene, die im Grunde , wie die Autorin anmerkt, schon dann zufrieden sind, wenn sie das bekommen "was die anderen hatten...", mehr verlangen als ihnen vorgelebt wurde? Ihre Antwort bleibt offen:
"Das Ressentiment ist eine schlecht gealterte Revolte, und das ist schade, reichlich schade für diejenigen, die dessen Opfer sind; es ist schade, denn wenn sie schließlich irgendwann doch revoltieren, dann nur den ersten und selbst den zweiten nachhinkend, zu spät - und deshalb werden wir nicht auf sie warten."
Mickeymaus-Schwänze und Pop-ups
Anstatt aufständisch zu werden, scheinen wir uns zunehmend an Dingen festzuhalten, deren unheimliche Macht darin besteht, dass sie uns konturieren. So die das Smartphone umklammernde Hand, so die sich auf jede auf uns einhalgende Eilmeldung klebenden Augen - "die Gitarre gibt uns Konturen, das Kleid eine Form.". Diese Konturen haben wir bitter nötig, ist es doch so, dass wir die gesamte Woche über unkonturiert durch die Welt laufen - "früh aufgestanden, in öffentlichen Verkehrsmitteln herumgezuckelt, auf unserem Karusell die herunterhängenden Mikeymaus-Schwänze und aufblitzenden Pop-ups aufschnappend...". Wie der Begriff "Mittelklasse" selbst, scheinen die ihn besetzenden Akteure - zumindest ihrem Gefühl nach - zunehmend ungreifbar und schwammig zu werden.
Von diesem Produktfetischismus ausgehend, springt Nathalie Quintane nun zu der radikal einschlagenden These, die Mittelklassen seien die einzigen wahren inneren Feinde der Demokratie. Im Bann der Dinge, die die anderen (die Oberschicht, denn man schaut stets auf) immer schon vor ihnen hatten, suchen sie die Gründe ihres "unzureichenden Aufstieg" innerhalb der Klassenhierachie im demokratischen System. Nicht mehr die Regierung, sondern die Demokratie ist an allem Schuld:
"...wegen der Demokratie haben sie nicht mehr genug Kohle, wegen der Demokratie machen ihre Kinder Rechtschreibfehler, wegen ihr fahren sie nur noch zehn Tage in den Urlaub statt fünfzehn und wegen ihr werden sie Ski in billigerer Qualität leihen müssen (usw)..."
"Wohin mit den Mittelklassen?" ist ein Appell an die Selbstkritik. Gewissermaßen fordert die Autorin ihre Leser*innen damit auf, es ihr gleich zu tun, sich in ihr Fahrwasser zu begeben und dem weitaus bequemeren Augen-Schließen abzusagen. Eine Aufforderung dazu, ein schwammig gewordenes Klassenbewusstsein der Mitte wiederzuentdecken, und Verantwortung zu übernehmen. Denn die Mittelklassen samt ihrer demokratiekritischen Grundhaltung sind gerade deshalb eine Gefahr für die Demokratie: Sie sind zugleich ihr Stützpfeiler.
Nathalie Quintane, Wohin mit den Mittelklassen (aus dem Französischen von Claudia Hamm), Matthes & Seitz Berlin, 2018; 116 Seiten, 12 €