Fehler im Bildungssystem Lesering im Interview mit Isabelle Liegl

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Mit dem Buch „Wo bitte geht´s nach Stanford?“ hat die Autorin, promovierte Betriebswirtin und Unternehmerin Isabelle Liegl im letzten Jahr gemeinsam mit Albert Wunsch ein Stück Erziehungs- und Lebenshilfe für Eltern herausgegeben. Im Interview mit Lesering erklärt sie uns, warum Deutschland seine Führungsposition in Sachen Bildung verloren hat und was wir ändern müssen.

Isabelle Lieg

Im Gesamtdurchschnitt der letzten PISA-Studie liegt Deutschland auf Platz 13: hinter Slowenien, Estland und Finnland. Was denken Sie, sind die Ursachen? Welche sind die 3 gravierendsten Fehler in unserem deutschen Bildungssystem?

Wir haben zwar Bildung für alle Kinder, aber nicht frühzeitig und keineswegs unabhängig vom sozialen Hintergrund. Dafür haben wir zunehmend Migration und damit auch die Problematik bildungsferner Eltern. Diese Eltern (gleich, ob deutsch oder ausländisch), sind oft nicht in der Lage oder manchmal auch nicht willens, ihre Kinder auf das Leben vorzubereiten. Und die Kinder dieser Eltern erhalten weder im Kindergarten, noch in der Schule die sprachliche und inhaltliche Unterstützung, die sie so dringend benötigen. Meines Erachtens müssten gerade die Kindergärten sehr viel mehr und besser auf die Bedürfnisse dieser Kinder eingehen, damit die spätere Einschulung mit Hilfe eines ähnlichen Vorwissens durch frühkindliche Bildung gelingt. Diese Förderung hat auch positiven Einfluss auf die spätere Einstellung der Kinder zu Schule und Leistung.

Ein weiteres Problem in unserem Bildungssystem ist nicht nur das Fehlen von ausreichend Kitaplätzen, sondern der flächendeckende Mangel an Ganztagsschulen, also Schule für den ganzen Tag, die den Kindern mehr Struktur, Inhalt, Sport, Erziehung und Unterstützung bietet und die Kinder weg von der Straße und weg vom Bildschirm holt. Stattdessen kommen unsere Kinder mit Bergen von Hausaufgaben nach Hause und Eltern werden zu Hilfslehrern. Meine Freundin Jenny hat es geschafft, als junge Witwe ihre beiden Kinder zu ernähren und erfolgreich durch die Schule zu führen. Das ist bei unseren Schulverhältnissen eine Meisterleistung, denn unsere Schulen verstehen sich lediglich als Halbtags-Vermittler von Wissen, alles andere soll die Familie leisten, ob sie kann oder nicht. Dieses Alleinlassen der Kinder in der Schule und der Eltern zu Hause hat für viele Familien Konsequenzen, denn bei uns reüssiert nur, wer das Glück hat die „richtigen“ Eltern zu haben und/oder wer ins Normgetriebe passt.

Und damit kommen wir zum dritten Fehler in unserem Bildungssystem. Zwar schafft die Politik die Inklusion und das G9 Gymnasium, doch fehlen in den Kindergärten und Schulen die Präventionsmaßnahmen, um unsere Kinder ausreichend zu fördern und zu fordern. Andere Länder wie Slowenien, Estland oder Finnland bieten trotz geringerer finanzieller Mittel allen Kindern eine individuelle Pädagogik, sei es durch Angebote für leistungsstarke Kinder, durch psychologische Lernbetreuung, durch Sprachtherapien oder durch sozial- und sonderpädagogische Förderung für alle Kinder, die davon profitieren können. Auch diese Maßnahmen sind bei uns dünn gesät und sind zudem stark abhängig vom jeweiligen Bundesland. Ich denke auch nicht, dass G9 das Leben vieler Schüler erleichtert. Ich bin eher der Meinung, dass es ihr Leiden verlängert, denn inhaltlich oder pädagogisch hat sich ja nichts verändert. Kinder werden durchs Abitur gezwungen, die anderweitig besser abschneiden würden und vor allem glücklicher wären.

Der Schwierigkeitsgrad des Abiturs ist ebenfalls von der Politik abhängig und differiert stark im Nord-Süd-Gefälle, je nach den vorherrschenden Einstellungen zu Leistung und Studienbefähigung. Dies wiederum führt zu weiteren Ungerechtigkeiten bei der Studienplatz Vergabe, wenn Studiengänge an einen Notenschnitt gebunden sind, was mittlerweile auf die Mehrzahl der Studien zutrifft. Auch das Thema Zukunft hat in unseren Schulen keinen Platz. Da geht es um Allgemeinbildung, nicht aber darum, wie wir unsere Kinder mitten im Wandel in ein digitales Zeitalter begleiten. Wir ignorieren seit vielen Jahren diese mehrdimensionale Herausforderung, selbst die digitale Ausstattung der Schulen scheitert am System! Auch wenn wir im Bildungsvergleich kontinuierlich weiter abfallen, hindert uns das nicht, weiterhin verkopft und theoretisierend in den immer gleichen Strukturen und Konzepten zu verharren, während andere Länder in der Lage sind sich fortzubilden, sich zu erneuern, sich an die Gegebenheiten anzupassen.

Was sind aus Ihrer Sicht die 3 Kernkompetenzen, die Jugendliche heute mitbringen müssen, um international zu bestehen?

An sich müsste ich jetzt antworten: sicherlich sehr gute Englischkenntnisse und grundsätzlich eine umfassende digitale Kompetenz. Aber ich möchte auf etwas anderes hinaus! Seit mehr als sieben Jahren studieren und arbeiten unsere Söhne in den USA und ich erfahre dadurch, was es heutzutage bedeutet, international zu bestehen.
Daher möchte ich den Begriff „international“ bewusst weiter fassen. Jugendliche träumen nicht mehr nur von innereuropäischen Erfahrungen, sondern von Studienaufenthalten und Arbeitschancen auf anderen Kontinenten. Dort erleben sie Internationalität jenseits ihrer Komfortzone. Vor allem erleben sie junge Menschen, die weniger behütet, sicher und gesund aufgewachsen sind, und diese Schüler oder Studenten können oft nur mit ihrer Intelligenz im Wettbewerb um Schul-, Studien- oder Arbeitsplätze punkten. Ihre Herkunft oder Kultur zwingen sie dazu, alles auf sich nehmen, um ihren Verhältnissen entfliehen zu können. Sie sind ehrgeizig und hart im Nehmen, und mit dieser globalen Konkurrenzsituation müssen unsere - vergleichsweise verwöhnten und behüteten Kinder - zurechtkommen, wenn sie international bestehen wollen. Ein Beispiel sind die United World Colleges. Das sind weltweit 17 Schulen, die den IB Abschluss bieten, und ihre Schüler aus 80 bis 90 Nationen nach akademischer Leistung, ihrem sozialen Engagement, ihrer Persönlichkeit sowie ihrer Reife! auswählen, unabhängig von finanziellen Mitteln. Die Schüler erleben täglich Wettbewerb, Herausforderung und vor allem Vielfalt (Diversity). Schüler dieser Schulen haben beste Chancen in beste Universitäten aufgenommen zu werden, oft wieder mittels eines Stipendiums, das sie sich erarbeitet haben. Studenten in Deutschland brauchen keine Stipendien für Studiengebühren, denn der Steuerzahler kommt dafür auf.
Vor diesem Hintergrund sehe ich die erforderlichen Kernkompetenzen, die unsere Jugendlichen heute und in Zukunft mitbringen müssen, vor allem im Motivations- und Resilienzbereich. Sie sollen in der Lage sein, sich mutig auf etwas einlassen zu können, ohne Intensität, Zeitdauer und Umsetzung zu fürchten. Sie sollen auch unter widrigen Konkurrenzbedingungen bestehen, weil sie Probleme und Krisen als Anlass zu Weiterentwicklung und Innovation nehmen; und sie sollen lernen ihr Verhalten zu reflektieren, damit sie in der Lage sind, auf Unvorhergesehenes oder Unbekanntes ohne nachhaltige Beeinträchtigungen reagieren zu können.

Was können hiesige staatliche Schulen von internationalen Schulen lernen?

Als ich den Satz in einem Zeit Online-Artikel über den Erfolg estnischer Bildungspolitik las: „Bei Pisa geht es nicht darum, wie gut die Schüler sich den Stoff angeeignet haben, sondern wie gut sie ihr Wissen praktisch anwenden können“, war klar, wie sehr unsere staatlichen Schulen von der Philosophie der Internationalen Schule lernen könnten, wenn sie denn nur hinsehen würden.

Im Vergleich zum hiesigen Schulsystem wird die Pädagogik, der Lehrplan und die Zukunftsstrategie der Internationalen Schule vom Prinzip der Ganzheitlichkeit getragen. Und das bedeutet nicht nur, dass Schule Wissen vermittelt und die Umsetzung der Fähigkeiten und Fertigkeiten fördert und fordert, sondern auch, dass sie einen Erziehungs- und Zukunftsauftrag verfolgt. Die Schüler sollen lebenslang lernen, kreativ und innovativ denken, ethische und global ausgerichtete Beiträge leisten und zu gesunden und ausgewogenen Persönlichkeiten werden. Und dieses Ziel soll erreicht werden durch Neugierde und Unabhängigkeit, durch interdisziplinäres Wissen und das Verständnis für Zusammenhänge, durch kritisches und kreatives Denken für komplexe Lösungen und ethische Entscheidungen, durch selbstbewusste Kommunikation in mehr als einer Sprache, auf unterschiedliche Weise und in Zusammenarbeit, durch Verständnis für Kulturen, Perspektiven und Erfahrungen, durch Fürsorge und Respekt, durch Mut und das Einstehen für Werte, durch Ausgewogenheit, Ehrlichkeit, Integrität, Gerechtigkeit und die Übernahme von Verantwortung, durch Einsicht und Reflexion. Warum zähle ich diese zehn Werte der Internationalen Schule auf? Um zu zeigen, wie breit angelegt das IB Lernprofil ist im Vergleich zur deutschen Schule, und wie stark die Ausrichtung auf die Lebenstüchtigkeit und die Fähigkeit der Schüler ist, sich weiterzuentwickeln, damit sie lernen, auf positive Weise in einer komplexen und sich stetig verändernden Welt Einfluss zu nehmen.

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