Hajar Taddigs beschreibt in ihrem Roman „Onkel Hassans wundersame Wiederauferstehung in einem alten Mercedes“ die Geschichte einer ungeplanten Flucht aus der DDR. Ein plötzlicher Tot und eine seltsame Wiederbelebung. Was steckt dahinter?
Es ist das Jahr 1984. Die türkische, in Westberlin lebende Familie Özer ist gerade in Aufbruchstimmung. Sie wollen in die türkische Heimat reisen, um der Hochzeit von Emine Özers Schwester Fatma beizuwohnen. Der alte Mercedes wird randvoll gepackt: Koffer voller Kleider, genügend Proviant für die Fahrt und... der allseits unbeliebte Onkel Hassan, der etwas widerwillig auf dem Rücksitz neben Sohn Cem und Tochter Selma einquatiert wird. Onkel Hassan (die allzu oft bemühte Figur des mürrischen, seltsamen Familienmitgliedes, welches man aber doch stillschweigend erträgt) schlägt prombt eine andere Fahrtroute vor: statt über Bayern und Österreich zu fahren, plädiert er dafür, einen Weg durch den Ostblock zu nehmen. Die vierköpfige Familie Özer willigt ein und der vollgestopfte, verbeulte Mercedes kommt ins Rollen.
Plötzlich tot – Herzversagen
Kurz nachdem sie die Grenze zur DDR passiert haben, verstirbt Onkel Hassan plötzlich. So what? Einige Seiten zuvor wird kurz ein Stechen in der Herzgegend erwähnt, welches der Leidende aber „als Heimweh diagnostizierte.“. Nun gut. Für Familie Özer, die den Tod des Onkels gelassen, ja beinahe willkommen aufnimmt, offenbart sich nun ein Problem. Denn wer zu fünft in die DDR einreist, muss auch zu fünft wieder ausreisen. Die Lösung liegt natürlich auf dem Wege, und trägt den Namen Walter Eschek. Walter, der als Nachtwächter auf einer Hühnerfarm arbeitet, wünscht sich nämlich nichts sehnlicher, als aus der DDR auszureisen. Ein Fluchtversuch scheiterte bereits. Es scheint schicksalhaft, dass der alte Merceders mit dem verstorbenen Onkel Hassan nun ausgerechnet vor der Hühnerfarm hält, in der Walter arbeitet. Dieser bekommt prombt das Angebot seines Lebens: den verstorbenen Onkel Hassans ersetzend, könne er mit Familie Özer in die Türkei reisen. So hätte schließlich jeder was davon.
2000 Kilometer geht es Richtung Süden. Grenzbeamte werden geschmiert, man zittert kurz, aber die Reise geht weiter. In der Türkei angekommen nehmen die Özers den mittlerweile ins Herz geschlossenen Walter übers Wochenende bei sich auf. Er erlebt die türkische Hochzeit mit, besucht ein Hammam, isst, feiert. Schließlich sorgen die fulminaten Erlebnisse in der Türkei dafür, dass Walter überhaupt nicht mehr nach Deutschland zurückreisen möchte. Zudem warten dort diverse Probleme auf ihn, denn seine „Flucht“ ist nicht unbemerkt geblieben und die Polizeit hat bereits mit den Ermittlungen begonnen. Onkel Hassans Leiche, die von der Familie provisorisch auf dem Hühnerhof verscharrt wurde, wird nun den als verschwunden gemeldeten Walter Eschek angehängt.
Eine ganz natürliche Absurdität
Die Absurdität des „Totenaustausches“ wird im Buch leider mit wenigen Sätzen abgetan, so dass unmittelbar der Eindruck entsteht, es ginge der Autorin hier lediglich um die Präsentation ihrer nicht ganz so gewöhnlichen Idee. So ist der Tod des Onkels weder für die Familie noch für den Leser in irgendeiner Weise dramatisch. Vielmehr erscheint er hier als ein notwendiges Rädchen im Getriebe des Geschichten-Erzählens. Der Plot muss vorangetrieben werden: Hassan stirbt, Walter ins Auto, weiter.
Der Text ist mit einer Vielzahl von fragwürdigen Wortwitzen gespickt. Im Zuge einer Grenzkontrolle etwa, vergleicht Fahrerin Emine den langen, „an einem Stab befestigten Spiegel“, mit dem einer der Grenzer den Unterboden des Autos nach Schmuggelware absucht mit dem Spiegel eines Zahnarztes und denkt: „Hauptsache, die fangen nicht noch an zu bohren!“. Das Hajar Taddigs mehr als acht Jahren für Fernsehformate wie „Das perfekte Dinner“ und „Shopping Queen“ schreibt, bleibt anhand solcher Kalauer nicht unbemerkt: hier möchte man "entertainen" und passende Sätze für einen Leser finden, der sich nicht überfordern, sondern berieseln lassen und amüsieren möchte.
Kulturelle Einblicke
Ein weiteres wichtiges und tragendes Element der Geschichte sind die kulturellen Unterschiede der Protagonisten. Der mehr oder weniger von der Außenwelt abgeschirmte DDR-Bürger Walter Emscheck erhält zunehmend Einblicke in türkische Lebens- Ess- und Feiergewohnheiten. Hier werden auch dem Leser eventuell neue, interessante Eindrücke geboten. Die gute alte Deutsche-Demokratische-Bespitzelungsrepublik hingegen, erscheint im gewohnten Gewand. Da dann vielleicht doch zu Heiner Müller greifen. „Onkel Hassans wundersame Wiederauferstehung in einem alten Mercedes“ ist ein nettes Buch für den Heimweg nach der Arbeit. Und auch die sollte es geben.
Hajar Taddigs, Onkel Hassans wundersame Wiederauferstehung in einem alten Mercedes; Blanvalet Verlag, 2018, 352 S., 15 €