Mit seinem Roman Tschick hatte Wolfgang Herrndorf 2010 den Überraschungserfolg des Jahres gelandet. Im selben Jahr wurde ein bösartiger Hirntumor bei ihm festgestellt. Am 26. August 2013 nahm er sich das Leben. Nun ist bei Rowohlt eine Sammlung nachgelassener Texte des Autors erschienen.
Wolfgang Herrndorf hatte offenbar eine genau Vorstellung davon, welche seiner Texte an die Öffentlichkeit gelangen sollen. Immer wieder vernichtete er eigene Aufzeichnungen, Bücher mit Notizen und Tagebücher. In seinem autibiografischen Werk Arbeit und Struktur ist neben einem Eintrag zur besagten Materialvernichtung ein Foto zu sehen, auf welchem eine randvoll mit Wasser und Papier gefüllte Wanne abgebildet ist. Auf seinem Laptop fand man einen Ordner mit dem Namen „Ungesehen löschen“. Herrndorf schien nahezu akribisch zu sein, was das Veröffentlichungsmaterial nach seinem Tod anbelangt. Dennoch haben es die Herausgeber Marcus Gärtner und Cornelius Reiber nun geschafft, ein Nachlass-Band zusammenzustellen. Stimmen, heißt das Buch. Angelehnt ist der Titel an das Synonym „Stimmen“, unter welchem Herrndorf im Internetforum „Wir höflichen Paparazzi“ seine Texte veröffentlichte.
Die Herausforderung des Schreibens
Die immer eindringlichen Texte weisen ein breites Spektrum auf. Hier verlieren wir uns in der stickigen, schwitzigen Einsamkeit diverser WG-Party-Nächte, dort werden uns feinfühlig Kindheitserinnerungen nachgezeichnet. Zwischendrin dann wieder essayistischte Versuche zur Gegenwart, Betrachtungen zu Kunst und Literatur. Auch Gedichte sind zu lesen, die, in Reimform geschrieben, an Liedtexte erinnern. Hernndorfs lakonischer Stil und sein Sinn für Pointen treten im Verlauf dieser gattungsübergreifenden Textsammlung immer wieder zutage.
Ein wichtiger, immer wieder anzutreffender Punkt ist das Lebensgefühl des jungen Autors im Berlin der Jahrtausendwende. Oft geht es um die Bedingungen und Herausforderungen des Schreibens, darum, was es bedeutet, Autor zu sein. Es sind Gedanken, die sich um Kunst, Kunstkritik und Selbstpositionierung drehen:
„Es gibt keine Literaturtheorie. Es gibt keine guten Gattungen, es gibt keine großen Würfe, es gibt keine Zeitforderungen, es gibt nur die Kunst und den Mist.“.
Auf ein Letztes
Einige der versammelten Texte wurden bereits in Zeitungen veröffentlicht. Die meisten aber, stammen aus dem Internetforum „Wir höflichen Paparazzi“, in welchem Herrndorf zwischen 2001 und 2009 postete. Diese Beiträge können durchaus als Experimente angesehen werden, als ein Suchen nach Bruchstellen. Unbefangen und unprätentiös arbeitete sich Herrndorf hier ab. Interessant ist sicher auch, jene Texte als skizzenhafte Vorläufer der später erschienenden Romane zu lesen.
Eine letzte Möglichkeit, Einblicke in die Arbeits- und Denkprozesse eines großen Autors zu erhalten. So betonen auch die Herausgeber Marcus Gärtner und Cornelius Reiber unmissverständlich: „Dieser Band wird der letzte mit neuen Texten von Wolfgang Herrndorf sein.“
Wolfgang Herrndorf: Stimmen. Rowohlt, Reinbek in Hamburg 2018; 192 S., 18 €, E-Book 14,99 €