Unter Staatspräsident Xi Jinping entwickelt sich in China derzeit eine supermoderne Diktatur. Der langjährige China-Korrespondent Kai Strittmatter beschreibt in seinem Buch „Die Neuerfindung der Diktatur“ einen totalitären Staat, in dem dystopische Szenarien, wie wir sie sonst nur aus Science-Fiction Romane kennen, längst Realität geworden sind.
Mehr als zwanzig Jahre lang hat Kai Strittmatter als Korrespondent in China gelebt und gearbeitet. Sein Buch „Die Neuerfindung der Diktatur“ ist somit auch der Bericht eines Augenzeugen, der die Auswirkungen des digitalen Wandels und dessen politische Folgen in diesem Land miterlebt hat. Das Internet (unmögliche Verallgemeinerung), dieses Instrument der wunderbaren Freiheit und der furchtbaren Knechtschaft, verändert seine Funktion je nach Anwendungsbedarf. Als wichtigen Wendepunkt bezeichnet Strittmatter daher den Aufstieg von Xi Jinping, der seit 2013 Staatspräsident der Volksrepublik Chinas ist und mit dessen Präsidentschaft ein grundlegender Wandel innerhalb der politischen Entwicklung Chinas vonstatten ging. Xi Jinping habe auf mehr Ideologie, auf mehr Kontrolle und einen aggressiveren Aufrtitt nach aussen gesetzt. Wie sich solcherlei Absichten in der Anwendung des Digitalen wiederspiegeln können, wird am Beispiel Chinas gegenwärtig deutlich.
Das Sozialkredit-System
Wie erschafft man einen neuen, aufrichtigen Menschen? Das sich derzeit noch im Probelauf befindene Sozialkredit-System (auf Chinesisch: „System der sozialen Vertrauenswürdigkeit“), soll auf diese uralte Frage eine Antwort liefern: Pausenlose Überwachung und Bewertung. Jeder Netznutzer dabei wird erfasst und einem „Rating“ unterzogen. Selbst der kleinste Fehler - das heißt jegliches Verhalten welches dem neuen, aufrichtigen Menschen widerspricht - wird aufgezeichnet, ausgewertet und bestraft. Schon wer bei Rot die Straße überquert, erscheint mit vollem Namen und für alle sichtbar auf Fotos, Displays oder Anzeigetafeln. Fehlerfreies Verhalten hingegen, wird mit Urkunden geehrt. Auch die Identität von Passanten kann in sekundenschnelle erfasst werden. Der Polizei stehen hierzu spezielle Videobrillen zur Verfügung.
Ein weiteres Kontrollmittel sind Überwachungskameras. Bis 2020, so das Ziel, soll auf zwei Chinesen eine Kamera kommen. Durch die neue Technik der Gesichtserkennung ist es bereits möglich Stimmen, Gesichter und sogar die DNA einzelner Passanten auf Polizeicomputer zu speichern. Aufgrund ihrer Verhaltensweisen wird die Bevölkerung daraufhin in Gefährdungsklassen eingestuft, von "vorbildlich" über "verdächtig" bis "kriminell".
Ein Züchtigungsprozess, den viele Chinesen und Chinesinnen als angenehm und beruhigend empfinden. Strittmacher verweist an dieser Stelle darauf, dass die Bürger in einem System der Gedankenkontrolle und Propaganda aufgewachsen sind. Niemand wüsste so recht, was gerade mit ihm passiert. Von Propaganda umgeben, propagandiert man sich nun selbst, pausenlos, ohne Unterlass. Was sonst klamm und heimlich hätte vermerkt werden können, ist nun - im Falle der Anzeigetafeln - deutlich sichtbar geworden. So wird die Bevölkerung geteilt. Beispielsweise in Vertrauenswürdige (die gute Chancen auf einen günstigen Bankkredit haben) und Vertrauensbrecher (die keine Flugtickets mehr kaufen können).
Kybernetische Diktatur
Der Autor beobachtet allerdings auch zunehmende Verunsicherung unter den Bürgern. So lauten die Sätze, die er am häufigsten gehört hat: „Ich habe kein Sicherheitsgefühl. Ich fühle mich total unsicher.“ und „Es gibt keine Moral in dieser Geselslchaft“. Laut Strittmacher ein Resultat des ewigen Ringens um Wachstum und Reichtum. Ethische Werte scheinen im Zuge des digitalen Wandels grundsätzlich verloren zu gehen. Vielleicht weil sie in einer Welt der oberflächlichen Repräsentation für viele Akteure tatsächlich überflüssig geworden sind. Eine kybernetische Diktatur, wie sie in China bereits ihre Anwendung findet, wäre auch hier zu Lande denkbar. Leben wir nicht längst unter ständiger Kontrolle? Hinterlassen wir nicht täglich digitale Fußspuren, um sicher zu gehen, dass wir vor den Geräten noch "da" sind?
Über den Einfuss Chinas auf die Welt schreibt der Autor gegen Ende des Buches. Hier warnt er vor Anpasssung und unhinterfragtem Symphatisieren. Denn eine Stärke Chinas, so Strittmatters, besteht darin, den Westen zu schwächen.
Kai Strittmatter, Die Neuerfindung der Diktatur: Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert, Piper Verlag, 2018, 288 Seiten, 22 Euro