William T. Vollmann: „Arme Leute“ Begegnung mit der Armut

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Was genau bedeutet es arm zu sein? Wer setzt die Messlatte an? Lassen sich scheinbar verlorene Schicksale umkrempeln? Von diesen Fragen angetrieben hat der Autor William T. Vollmann ein Reportagen-Band mit dem Titel „Arme Leute“ verfasst, in dem er ebendiese besuchte und befragte.

Suhrkamp Verlage / Presse

Die Straßenhure in Mexiko, die Putzfrau in Thailand, die Obdachlosen vor der eigenen Haustür in Kalifornien. In „Arme Leute“ kommen Menschen zu Wort, deren Lebesumstände uns häufig nur in abstrahierter Form begegnen, nämlich in Form von Statistiken und Hochrechnungen. William T. Vollmann, Romancier, Essayist, Reporter, stellte sich die Fragen, was mit dem Begriff „arm“ eigentlich gemeint ist, wie dieser unter sich verändertenden Blickwinkeln variiert, und was die Armen selbst über ihr Schicksal denken. Um Antworten zu finden, reiste er mehrere Jahrzehnte lang durch die Welt, um den Blick auf jene Ecken zu richten, die man als Tourist für gewöhnlich zu vermeiden versucht. Ecken in Thailand und Russland, in Vietnam, China, Kasachstan, Pakistan, Jemen und Kongo, in Kolumbien, Afghanistan, Mexiko und Japan. Nicht zuletzt ist es der Parkplatz vor der eigenen Haustür, den der Autor als eines seiner ethnologischen Ziele erfasst.

Vollmanns Buch ist Reportage, Essay und Untersuchung; ein allumfassendes Portrait der Menschen am unteren Rand der Gesellschaft. Seine Fragen treffen auf unterschiedliche Antworten, die häufig von einer entrüstenden Selbstverständlichkeit getragen werden. Man liest Sätze wie: "Weil es Menschen gibt, die etwas aus ihrem Geld machen können, die hart arbeiten und Gelegenheiten nutzen, die sich ihnen bieten; und dann gibt es ein paar von uns, die können das nicht", der mexikanischen Sexarbeiterin Angelica. Andere meinen es sei der Wille Allahs, der ihr Arm-Sein bedingt, und woanders ist man der Überzeugung, dass alles „Karma“ sei. Auch fehlende Bildung spielt eine Rolle, sowie die Gier der Reichen oder ein plötzlich eingetroffenes Unglück. Der Autor lässt die Antworten unkommentiert, ist versucht, so wenig wie möglich zu verzerren.

"Kleinbügerlicher Immobilienbesitzer"

Ausgegrenzt, unsichtbar. Abgehängt, verlassen, unter Schmerzen. Krieg, Konzerne, Politik. Armut, schreibt Vollmann, sei eher eine Erfahrung, als ein messbarer Zustand, und bisweilen verflucht man als Leser nicht ganz ohne Wut die Messsüchtigen, die Existenzen als Zahlen aufs Papier bringen. Und sich selbst, als Konsument dieser Zahlen, der anschließend konsumiert. Vollmann jedenfalls, erscheint hier als aufrichtiger Empathiker, der jenseits jeglicher Messbarkeit den Begriff Armut für sich zu fassen versucht, und an anderen Schicksalen wirklich interessiert ist. Das er sich gegen Ende seiner Erkundungen selbst als „kleinbürgerlicher Immobilienbesitzer“ vorstellt, unterstreicht diesen emphatischen Charakter nur.

Die „kleinbügerliche“ Immobilie, die Vollmann hier meint, ist ein ehemaliges Restaurant in Karlifornien, dessen Parkplatz Obdachlose bewohnen. Mit diesen "seinen" Bewohner setzt sich der Autor am Ende seiner Reportage (als „Reicher“) ins Verhältnis, um seinen tagtäglichen Umgang mit der Armut vor seiner Haustür zu hinterfragen. Manche von ihnen, koten an seine Hauswand, versuchen sogar ins Haus einzudringen. Wie mit diesen Umständen umgehen? Er hat Angst, kommt Vollmann zum Schluss. Angst weil er glaubt, er sei als "Reicher" das Feindbild der "Armen".

William T. Vollmann: Arme Leute, Reportagen; Suhrkamp Verlag; 281 Seiten; 22 Euro



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