"Mit der Faust in die Welt schlagen" „Mit der Faust in die Welt schlagen“ von Lukas Rietzschel – Radikalität und Verfall im Schatten der Provinz

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Ullstein Buchverlag / Presse

Lukas Rietzschels Debütroman „Mit der Faust in die Welt schlagen“ wird häufig als „Roman der Stunde“ betitelt – ein Werk, das angesichts gesellschaftlicher Spannungen, rechter Radikalisierung und der Vernachlässigung ostdeutscher Regionen einen schmerzhaft aktuellen Nerv trifft. Doch hinter dieser Bezeichnung steckt mehr als nur eine Momentaufnahme.

Rietzschels Roman bietet eine feinfühlige, aber schonungslose Erzählung über das Aufwachsen in einer Umgebung, die von Perspektivlosigkeit, Wut und Verfall geprägt ist. Gleichzeitig wirft das Buch wichtige Fragen auf: Was treibt Menschen in den Extremismus? Und welche Verantwortung trägt die Gesellschaft?

Tristesse und schwelende Wut

Der Roman spielt zu Beginn der 2000er Jahre in einem kleinen Dorf in der sächsischen Provinz. Hier lernen wir die Brüder Philipp und Tobias kennen, deren Kindheit von einem Mangel an Möglichkeiten und einer düsteren Zukunftsperspektive geprägt ist. Das Schamottenwerk, einstiger Lebensnerv des Ortes, wurde geschlossen. Ärzte und Banken haben sich zurückgezogen, und selbst grundlegende soziale Infrastrukturen sind verschwunden. Die wenigen Höhepunkte im Jahr, wie der örtliche Rummel, verdeutlichen mehr die kollektive Verlorenheit als echte Freude.

Rietzschel beschreibt eine Umgebung, in der die Langeweile und Frustration der Menschen in Wut umschlagen. Diese Wut sucht sich Ventile: Erst sind es Politiker und Westdeutsche, später Immigranten. Der Ältere der Brüder gerät in den Sog einer Gruppe rechter Jugendlicher, die Hakenkreuze sprühen und mit ihren schwarzen Autos Macht demonstrieren wollen. Die Gewalt eskaliert, als Asylsuchende ins Dorf ziehen. Diese werden zur Zielscheibe blinder Aggression, die in Schlägereien und dem Ausleben von Vorurteilen gipfelt.

Themen: Radikalisierung, Perspektivlosigkeit und gesellschaftlicher Verfall

Rietzschels Roman ist nicht nur eine Geschichte über zwei Brüder, sondern auch eine Betrachtung über die sozialen und psychologischen Mechanismen, die Menschen in den Extremismus treiben. Perspektivlosigkeit, das Gefühl des Vergessenseins und eine tiefe Resignation prägen das Leben der Protagonisten und ihrer Umgebung. Der Mangel an Alternativen lässt die Wut wachsen, bis sie in Gewalt umschlägt.

Das Buch verdeutlicht, wie leicht sich diese Wut manipulieren lässt. Parolen wie „Für Griechenland wäre Geld da gewesen“ wirken aufgeladen, während sich die Jugendlichen an politisch aufgeladenen Narrativen orientieren, die sie kaum vollständig verstehen. Dabei bleibt Rietzschel realistisch: Er bietet keine einfachen Antworten oder Schuldzuweisungen, sondern beschreibt die Spirale aus Verzweiflung, Radikalisierung und Gewalt, die sich immer weiter dreht.

Authentische Figuren in einer zerrissenen Welt

Die Brüder Philipp und Tobias sind die emotionalen Anker der Geschichte. Während Philipp sich stärker der rechten Szene zuwendet, bleibt Tobias zurückhaltender und versucht, einen anderen Weg zu finden. Ihre Gegensätze verdeutlichen, wie unterschiedlich Menschen auf dieselben äußeren Umstände reagieren können.

Auch die Nebenfiguren tragen zur Vielschichtigkeit des Romans bei. Die Eltern der Brüder spiegeln die Resignation der älteren Generation wider, die sich mit den Umständen abgefunden hat. Uwe, ein Nachbar, der sich in einem künstlichen See ertränkt, steht exemplarisch für die Hoffnungslosigkeit der Menschen im Dorf. Diese Figuren wirken lebendig und glaubwürdig, da Rietzschel ihre inneren Konflikte sensibel herausarbeitet.

Prägnant, schonungslos und atmosphärisch

Lukas Rietzschels Schreibstil ist präzise und schnörkellos. Mit klaren, eindringlichen Worten schildert er die Tristesse der ostdeutschen Provinz und die Abwärtsspirale, die viele seiner Figuren durchleben. Besonders die Atmosphäre des Verfalls und der sozialen Isolation wird eindrucksvoll eingefangen. Die Beschreibung leerstehender Fabriken, verlassener Gebäude und vernachlässigter Straßen schafft ein Bild, das beim Lesen nachhallt.

Gleichzeitig bewahrt Rietzschel einen respektvollen Ton gegenüber seinen Figuren. Er verurteilt nicht, sondern zeigt, wie ihre Entscheidungen aus den Umständen heraus entstehen. Dies macht den Roman nicht nur literarisch, sondern auch gesellschaftlich wertvoll.

Grenzen der Darstellung

So kraftvoll und wichtig „Mit der Faust in die Welt schlagen“ auch ist, gibt es einige Aspekte, die kritisch betrachtet werden können. Die Bezeichnung „Roman der Stunde“ mag zwar treffend erscheinen, könnte aber den Eindruck erwecken, dass komplexe gesellschaftliche Entwicklungen in einem Buch umfassend erklärt werden können. Rietzschel legt den Fokus auf persönliche Geschichten und Beobachtungen, was die Erzählung zugänglich macht, aber eine tiefere analytische Ebene vermissen lässt.

Ein weiterer Kritikpunkt könnte die Entwicklung der Figuren sein: Während Philipp und Tobias gut ausgearbeitet sind, bleiben einige Nebenfiguren eher eindimensional. Dies mag dem Fokus der Geschichte geschuldet sein, nimmt der Handlung aber an einigen Stellen etwas von ihrer Tiefe.

Ein kraftvolles und wichtiges Werk

„Mit der Faust in die Welt schlagen“ ist ein beeindruckendes Debüt, das mit seiner zeitlosen Aktualität und emotionalen Wucht besticht. Lukas Rietzschel gelingt es, die Verlorenheit und Wut einer ganzen Generation einzufangen und auf den Punkt zu bringen. Der Roman zeigt die gefährliche Verbindung aus Perspektivlosigkeit, sozialem Verfall und Radikalisierung, ohne dabei in Klischees zu verfallen.

Rietzschels Werk ist ein Weckruf, der dazu einlädt, genauer hinzusehen – auf Menschen, die sich von der Gesellschaft abgehängt fühlen, und auf die Strukturen, die Radikalisierung ermöglichen. Es ist keine einfache Lektüre, doch gerade deshalb so wichtig und wertvoll. Ein Buch, das lange nachwirkt und eine dringende Einladung zur Diskussion bietet.

Empfehlung: Für Leser*innen, die sich für gesellschaftlich relevante Themen, Coming-of-Age-Geschichten und authentische Charaktere interessieren, ist „Mit der Faust in die Welt schlagen“ ein absolutes Muss.

Über den Autor: Lukas Rietzschel

Lukas Rietzschel, geboren 1994 in Räckelwitz, einem kleinen Ort in Sachsen, zählt zu den wichtigsten jungen Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur. Mit „Mit der Faust in die Welt schlagen“ hat er 2018 ein literarisches Debüt vorgelegt, das gesellschaftlich und politisch weitreichende Diskussionen angestoßen hat. Als Arbeiterkind, das selbst in einer strukturschwachen Region aufgewachsen ist, kennt er die Lebensrealität, die er in seinem Roman schildert, aus erster Hand. Seine Erfahrungen und Beobachtungen verleihen der Geschichte eine Authentizität und Tiefe, die den Leser*innen das Leben in den vergessenen Regionen Deutschlands eindrucksvoll nahebringen. Rietzschel lebt und arbeitet in Görlitz und setzt sich auch in seinen weiteren Projekten intensiv mit sozialen und kulturellen Themen auseinander.

Lukas Rietzschel: Mit der Faust in die Welt schlagen, Roman; Ullstein Verlag, Berlin, 2018; 320 Seiten, 20€, als E-Book 16,99€


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