Der Autor Philipp Weiss hat mit seinem Debüt "Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen" ein erstaunliches Werk vorgelegt. Der etwa 1000 Seiten starke Band gliedert sich in fünf Bücher, die grundverschiedene Geschichten erzählen.
Die Metapher des Weltenrandes verbindet für Weiss zwei Elemente: In einem Interview erklärt der gebürtige Wiener, Inspiration hierzu sei zum einen das Bild "Wanderer am Weltenrand"- ein Gemälde aus dem 19. Jahrhundert, welches einen "mittelalterlichen Wahrheitssucher zeigt, der bis an den Rand der Welt wandert und dort, wo Himmel und Erde sich berühren, durch eine Lücke zwischen beiden hindurchblickt"- und zum anderen "der letzte Mensch" aus Nietzsches "Zarathustra" gewesen. Das besagte Lachen welches hier am Weltenrand ertönt, ist ein Lachen, welches dann entsteht, wenn der Schrecken verdrängt wird. Ein sardonisches Grinsen.
"Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen" ist zweifelsfrei ein Mammut-Projekt. Sechs Jahre zog sich Weiss mehr oder weniger zurück, um an diesem zu arbeiten. Jetzt erscheint der Band bei Suhrkamp, als wohl eine der außergewöhnlichsten und herausforderndsten Neuerscheinungen des Jahres. Allein in der Untergliederung der einzelnen Erzählungen spiegelt sich wieder, was man die Lust am literarischen Experiment nennen könnte, die - nach wie vor am Weltenrand - auch eine neue Lust des Lesens heraufbeschwört. Die gewohnte Linearität eines in sich geschlossenen Erzählstranges aufbrechend, setzt der Autor differente Erzählformen nebeneinander.
"Enzyklopädien eines Ichs", der erste Band, berichtet vom Leben der Pariser Kommunardin und durch Japan Reisenden Paulette Blanchard im 19. Jahrhundert. "Terrain vague" erzählt (im klassischen Sinne) die Geschichte von Jona, der ins Tokio der Gegenwart reist und dort Zeuge der Katastrophe von Fukushima wird. Um die intellektuelle Krise der Klimaforscherin Chantal geht es im dritten Band "Cahiers", der essayistische und aphoristische Dokumentationen versammelt. "Akios Aufzeichnungen" sind die Tonbandaufnahmen eines Neunjährigen, der kurz nach der Fukushima Katastrophe seine Ängste und seine Verlorenheit auf ein Diktiergerät spricht. Der zeichnerisch umgesetzte Manga-Comic "Die glückseligen Inseln" der Wiener Künstlerin Raffaela Schöbitz gewährt letztlich einen Einblick in verstörende Innenwelten.
Die fünf grundverschiedenen Erzählungen werden durch die Figurenkonstellation zusammengehalten: So ist Chantal nahezu besessen vom Schicksal Paulettes, und Jona wiederum der ehemalige Gatte von Chantal. Thematisch werden alle Geschichten von der Sehnsucht nach Entgrenzung durchzogen; ein Welt- Technik, und Wissenschaftsgeschichte, die ebenso über den Fortschritt, wie über die drohende Selbstzerstörung der Menscheit berichtet. Eine Gradwanderung, auf dessen Wege die Risse der Erde genauer betrachtet, beleuchtet und vermessen werden. So wird Weiss selbst zum "Wanderer am Weltenrand" der, perspektivisch konsequent, Geschehnisse von verschiedenen Plateaus aus betrachtet und erzählerisch umsetzt.
Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen, Suhrkamp, 1050 Seiten, 5 Bände, 48€