Wie sich die Welt vereindeutigt Das Sterben der Vielfalt

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Thomas Bauer hat mit "Die Vereindeutigung der Welt - Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt" einen kurzen und wichtigen Essay über die Gefahren der allumfassenden Angleichung geschrieben.

Reclam / Andreas Diel

Das Absterben der Vielfalt ist in allen Bereichen unseres Lebens zu beobachten. Es hat begonnen, um uns herum, direkt vor unseren Augen, mit dem stetigen schrumpfen der Vögel- und Insektenbestände, mit dem allmählichen Aussterben bedrohter Pflanzenarten. Es ist zu beobachten an der Vervielfältigung von Fernseh- und Youtubekanälen, an der Masse uns überschwemmender Produktangebote und deren Bewerbungen: eine Vervielfältigung, die nur eine Scheinvielfalt produziert. In Wahrheit mündet das stetig Neue in einem Meer aus Neuem, in dem ein Nivellierungsprozess stattfindet der letzlich zu ein- und demselben Content führt. Wohin wir auch schauen, so schließt Thomas Bauer die Einleitung seines schmalen Buches ab, überall ist "eine Tendenz zu einem Weniger an Vielfalt" zu beobachten.

Der zentrale Begriff in Bauers Analyse lautet "Ambiguitätstoleranz". Damit ist die Fähigkeit gemeint, Uneindeutigkeiten zu ertragen und Ambivalenzen zu akzeptieren. Wer es nicht schafft Widersprüche auszuhalten, flüchtet sich, so Bauer, in gesellschaftlich meist ungünstige Haltungen. Im Falle der Religiosität, die im Buch neben den Betrachtungen von Kunst und Politik einen wichtigen Teil einnimmt, bedeutet dies entweder fundamentalistisch oder gleichgültig zu werden. Beide Akteure, sowohl der Fundamentalist als auch der Gleichgültige, sind Beispiele für Vertreter der "Ambiguitätsintoleranz". Wie diese Haltungen mit einer "Vereindeutigung der Welt" zusammenhängen, und welche weiteren Folgen aus derselben resultieren könnten, beschreibt Bauer im laufe seines Buches auf nachvollziehbare Weise.

Selbst die Kunst, die für gewöhnlich ein "anything goes" proklamiert, sich pluralistische Vieldeutigkeit und Polyvalenz auf die Fahne schreibt, ist längst dem Vereindeutigungsprozess zum Opfer gefallen. Bauer kritisiert hier beispielsweise Schönbergs Zwölftontechnik, als ein geradezu mathematisches Verfahren der Kunstproduktion, welches Abweichungen kaum zulässt.

Der Essay erscheint als Warnsignal in einer immer stärker zugeschnittenen Welt, in der die Akzeptanz von Widersprüchlichkeit und Nicht-Greifbarem zu einem Moment der Individualisierung wird. Das Schöne daran ist, dass man sich mit- und nach der Lektüre beinahe in jeder Alltagssituation selbst auf die Probe stellen kann: Wie selbstverständlich ist für mich das Verlangen nach einer eindeutigen Entscheidung? Was lasse ich zu?


Thomas Bauer: Die Vereindeutigung der Welt - Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt; Reclam Verlag, Stuttgard, 2018, 104 S., 5,49 €




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