Autorin Yvonne Kuschel hat herausgefunden, dass Performance-Künstlerin Marina Abramivic gar nicht so schockierend ist, insbesondere, wenn der Betrachter bereits durch die versteckte Darstellung von Gewalt und Sex alleine schon bei den biblischen Heiligen abgehärtet ist.
Luise schickte aus London eine Postkarte: gezeichnete Brüstchen, verschiedene Formen, aus der Hand der berühmten Performance-Künstlerin Marina Abramovic. “Du bist doch für Brüste empfänglich?” stand auf der Rückseite der Karte, und “Wann kommt dein Busenwunder-Buch raus?”
Bisher glaubte ich, Frau Abramovic quälte nur ihren Körper öffentlich, aber siehe da, sie ist auch eine Zeichnerin. Ich lehnte das Kärtchen an die Blumenvase auf dem Küchentisch. Am Nachmittag kam das Kind aus der Schule, mit Hunger. Es gab Klöße und Gulasch. Klöße mit Gulasch ist des Kindes Lieblingsessen, aber an diesem Tag schmiss es die Gabel wieder hin und rief: Iiiiih! Jetzt kann ich nicht mehr essen!!! Das ist ja eklig! Nimm das weg!
Gemeint war Luises Karte. Immerhin wurden die sparsamen Striche richtig gedeutet. Kommentarlos nahm ich einen Stift und ergänzte das Motiv ein wenig. Besser! sprach das Kind, gib mir noch ein Kloß!
Über die Heiligen zu forschen ist ein spannender Zeitvertreib. Mich interessiert in erster Linie die Darstellung dieser Figuren. Für Uneingeweihte geben die Dinge, die sie auf Bildern in den Händen halten, Rätsel auf; so auch die Heilige Agatha. Ihr Bildnis stand einen ganzen Winter lang auf der Fensterbank meiner Hamburger Küche und all die Zeit über nahm ich an, sie hielt einen Tortenteller in den Händen, mit kleinen Kuchen oder Früchten darauf.
Eines Tages wollte ich Genaueres über diese Dame erfahren und fand im “Reclams Lexikon der Heiligen und der biblischen Gestalten” die erschütternde Wahrheit: es waren Agathas eigene, ihr abgeschnittene Brüste, die sie da dem Betrachter präsentierte! Die ganze grausame Geschichte erzähle ich hier besser nicht, nur soviel: tödliche Qualen wurden der Frau angetan, weil sie sich weigerte, jemanden zu heiraten, der kein Christ war...
Das Lexikon erwarb ich in Nürnberg. In der dortigen St. Lorenz Kirche steht die Statue des Heiligen Laurentius, der eine Art Pfannenheber mit viel zu kurzem Griff in der Hand hält. Was bedeutete dieses seltsame Ding? fragte ich mich. Da niemand da war, den ich um Aufklärung bitten konnte, ging ich in den benachbarten christlichen Buchladen, wo ich jenes hilfreiche Nachschlagewerk käuflich erstand. Laurentius wurde bei lebendigem Leib zu Tode gegrillt, fand ich heraus. Daher war das, was er in der Hand hielt, ein Rost...
Das Buch enthält auf 656 Seiten eine ganze Flut schier unglaublicher Geschichten. Es würde mich nicht wundern, wenn Domina-Studio-Betreiber ihre Ideen aus diesem Werk speisen.
Vor vielen Jahren lud mich ein junger katholischer Priester ein, mit ihm durch Polen zu wandern. Von Warschau bis nach Krakau, mit Übernachtungen in Klöstern. Ich nahm die Einladung an. Was ich sah und kennenlernte, hat mich befremdet, erschüttert, amüsiert und berührt, alles im ständigen Wechsel. Nach siebzehn Tagen in der alten Königsstadt Krakau angekommen, klopften wir an die schwere Pforte eines Nonnenklosters. Die hinter uns liegende Wanderung hat mich gelehrt, dass man in jedem Kloster Obdach finden kann, wenn man sich traut, anzuklopfen. Als Gastgeschenk brachte ich zwei Bücher mit: “Der kleine Nick” und “Der Meister und Margerita”. Mit Michail Bulgakow wollte ich natürlich provozieren, was aber nicht gelang. Der Roman war bestens bekannt und als Lesestoff beliebt, daher ein willkommenes Geschenk für die mit weltlicher Literatur überaus breit bestückte Klosterbibliothek.
Die für die Zeit unseres Aufenthaltes mir zugeteilte junge Nonne führte mich durch die Anlage und zum Schluss in das zum Museum umgebaute Verließ direkt unter der Kapelle; das Herzstück, wie sie stolz beteuerte.
Wundersame Reliquien gab es dort zu bestaunen, unter anderem mehrere Leibgürtel, geflochten aus einer Art Stacheldraht, die von Mönchen (und Nonnen?) unter den Sutanen direkt auf der nackten Haut zu Zwecken, die ich anders deute als die Ordensschwester, getragen wurden.
Auch mehrschwänzige Lederpeitschen, manche mit kleinen stacheligen Kugeln an deren Ende, die zur Selbstkasteiung während der Zwiesprache mit Gott dienten und einiges mehr füllte die Vitrinen. Den Katholizismus verband ich schon als Heranwachsende mit Qualen, die Schmerz und Lust zugleich hervorriefen, daher überraschte mich das Museum nicht sonderlich. Was mich jedoch überrascht hat, war die Tatsache, dass die junge Braut Christi in scheinbar völliger Unkenntnis der Bedürfnisse des menschlichen Körpers nach Befriedigung der Lust zu leben schien. Sie sprach mit großer Ehrfurcht über die ausgestellten Hilfsmittel und ihre historisch belegten Benutzer, und interpretierte das Selbstfoltern als Versuch, Gott näher zu kommen... Hm.
Ich kann nicht leugnen, dass der Vorstellung, eiserne Unterwäsche zu tragen, etwas sehr Erotisches anhaftet... Keuschheitsgürtel! Wurden diese nicht auch von der Katholischen Kirche erfunden? (Beate Uhse wußte darüber sicher Bescheid, ich sollte in der Hölle anrufen und sie befragen; oder im großen www, was der Hölle wahrscheinlich nicht unähnlich ist). Ein weites Feld, dass da zu beackern wäre...
Frau Abramovic! Bei der Nächsten Performance sollten Sie eine Nonnentracht erwägen!
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