Am 31. März 1925 erschien in der Weltbühne, Heft Nr. 13, ein kurzer Text unter dem Pseudonym Peter Panter. Sein Titel: »Die Zentrale«. Sechs Absätze, ein knapper Stil, ein klarer Ton – und doch ein Text, der bis heute wie ein seismografisches Protokoll innerbetrieblicher Ohnmacht gelesen werden kann. Es geht um Hierarchie, um Stagnation, um das subtile Machtspiel innerhalb von Institutionen – und um ein Prinzip, das sich nicht auf Organisationen beschränkt, sondern auf eine kollektive Haltung.
»Die Zentrale weiß alles besser.« Mit diesem Satz beginnt Tucholsky seine Polemik, und schon hier ist die Perspektive gesetzt: nicht von oben herab, sondern von der Seite, von jemandem, der das Spiel kennt – und durchschaut. Die Zentrale, so erfahren wir, verfügt über »die Übersicht, den Glauben an die Übersicht und eine Kartothek« – und vor allem über eines: sich selbst. Ihr Hauptanliegen ist, »Zentrale zu bleiben«. Wer Eigeninitiative wagt, wird sanktioniert.
»Ob es vernünftig war oder nicht, ob es nötig war oder nicht, ob es da gebrannt hat oder nicht –: erst muß die Zentrale gefragt werden.«
Kurt Tucholsky – Schreiben gegen das Schweigen
Kurt Tucholsky (1890–1935) war kein Systemverächter, sondern ein unbestechlicher Systemkritiker. Als führender Autor der Weltbühne, deren Seiten er über zwei Jahrzehnte hinweg unter wechselnden Pseudonymen prägte, kämpfte er publizistisch gegen den Überhang an Disziplin und die Unterversorgung an Demokratie. Die Redaktion war ihm intellektuelle Heimat, die Sprache seine Methode, der Zweifel sein moralisches Grundrauschen.
Seine Texte reichten von politischen Leitartikeln bis zu Kabarettversen, von Gerichtsreportagen bis zu Couplets. Er war Redakteur, Essayist, Satiriker – ein Einzelner, der viele Rollen spielte, um wirksamer zu sein. Seine Justizkritik, seine Artikel über politische Morde und seine Serie Militaria zielten auf die Risse im republikanischen Versprechen. Dass er dafür ins Visier der Justiz geriet, war kaum zu vermeiden.
1931 wurde Carl von Ossietzky, Tucholskys Nachfolger als Herausgeber der Weltbühne, wegen Landesverrats verurteilt – aufgrund eines Artikels über die geheime Aufrüstung der Reichswehr. Tucholsky blieb in Frankreich, reiste nicht zum Prozess, eine Entscheidung, die ihn zeitlebens belastete. 1933 wurde die Weltbühne verboten, seine Bücher verbrannt, ihm die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Er verstummte – nicht aus Gleichgültigkeit, sondern aus Erschöpfung. Am 21. Dezember 1935 starb er in Schweden, vermutlich durch Suizid.
Dreiunddreißig stehen herum
»In der Zentrale sitzen nicht die Klugen, sondern die Schlauen«,
schreibt Tucholsky. Die Schlauen, das sind jene, die sich dem Risiko der praktischen Arbeit entziehen, indem sie sich in den Apparat einschreiben. Dort gilt: Wer »seine kleine Arbeit macht«, mag klug sein – »schlau ist er nicht«. Der wahre Weg nach oben führt über den »Reformvorschlag«, der, wie könnte es anders sein, zur Bildung einer neuen Unterabteilung führt –
»selbstverständlich der Zentrale unterstellt, angegliedert, beigegeben«.
Und dann die berühmteste Zeile des Textes, ein aphoristischer Schlag:
»Einer hackt Holz, und dreiunddreißig stehen herum – die bilden die Zentrale.«
Es ist ein Bild, das über den Moment hinausweist: Die Zentrale ist nicht nur ineffizient – sie ist ein System zur Kanalisierung von Energie, zur »Deppung« aller »Ansätze von Energie und Tatkraft der Unterstellten«. Sie hat keine Ideen – »und die andern müssen es ausführen.«
Die Bürokratie als Endmoräne
Am bittersten ist der letzte Absatz – eine kleine Soziologie der Karriere. Der »Mann der Praxis« schimpft auf die Zentrale, zerreißt ihre Ukase – doch am Ende heiratet er »die Tochter eines Obermimen«, avanciert und rückt selbst auf:
»Dortselbst angelangt, räuspert er sich, rückt an der Krawatte, zieht die Manschetten grade und beginnt, zu regieren.«
Als »gottgesetzte Zentrale«, versteht sich – nun seinerseits tief im »unendlichen Stunk mit den Zentralkollegen«.
Das Netz, in dem er sitzt, haben andere gebaut. Aber er spinnt es weiter. Und damit schließt sich der Kreis: Die Bürokratie ist nicht nur ein Ort, sie ist ein Modus. Und jeder kann Teil davon werden.
1925–2025: Ein Jahrhundert im Stau
Tucholskys Text endet mit einem scheinbar harmlosen Zusatz: Seine Diagnose gelte für
»Kleinkinderbewahranstalten, Außenministerien, Zeitungen, Krankenkassen, Forstverwaltungen und Banksekretariate«
– und sei natürlich
»eine scherzhafte Übertreibung, die für einen Betrieb nicht zutrifft: für deinen.«
Ironie als Rückversicherung. Doch wer diesen Text liest, erkennt ihn wieder – ob in Ämtern, Redaktionen, Universitäten oder Konzernen.
Und genau deshalb bleibt Die Zentrale aktuell. Nicht weil sich nichts geändert hätte – sondern weil sich ihre Struktur anpasst, weil ihre Rhetorik wandlungsfähig ist. Was bleibt, ist das Beharren auf Zuständigkeit, das Misstrauen gegenüber Initiative, die Verwechslung von Ordnung mit Vernunft. Und die leise, unsterbliche Stimme Tucholskys, die alles das schon vor hundert Jahren wusste – und dennoch schrieb.
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