Mit Für Polina legt Takis Würger einen Roman vor, der sich ganz dem Leisen verschreibt. Es ist ein Buch über eine Kindheit im Schatten, über eine Freundschaft, die fast Liebe war, und über die Musik als letzter Halt in einer Welt, in der vieles verloren geht. Wer Würgers frühere Bücher kennt, ahnt, dass hier keine einfache Geschichte erzählt wird – sondern ein langsames, schmerzhaft schönes Ausloten von Erinnerungen, Verbindungen und Sprachlosigkeit. Es ist ein stilles, sehr emotionales Werk, das unter der Oberfläche brodelt und lange nachhallt.
Worum geht es in "Für Polina": Eine Kindheit im Moor – und das Mädchen namens Polina
Hannes Prager wächst mit seiner Mutter in einer moorigen Villa irgendwo im Nirgendwo auf. In unmittelbarer Nachbarschaft lebt Polina, ein merkwürdiges, stilles Mädchen, das nie zur Schule geht und dennoch für Hannes zum Mittelpunkt seiner Welt wird. Die beiden Kinder führen eine Beziehung, die sich den üblichen Kategorien entzieht – es ist keine Freundschaft im klassischen Sinn, keine Romanze, eher eine stille, unausgesprochene Abhängigkeit.
Hannes ist ein musikalisches Wunderkind. Für Polina komponiert er ein Musikstück – sein erstes, sein einziges. Für Polina ist der Name dieser Komposition, der auch dem Roman den Titel gibt. Als Polina eines Tages verschwindet, zerbricht Hannes’ Welt. Die Musik verlässt ihn. Was bleibt, ist eine Lücke, die sich über Jahre nicht mehr schließen lässt.
Viele Jahre später, längst erwachsen, ist Hannes ein Mann ohne Richtung. Der Verlust Polinas hat sich in seine Lebenslinie eingebrannt. Erst als ihm ein mysteriöses Tonband in die Hände fällt, auf dem seine verschollene Komposition erklingt, beginnt er sich wieder zu erinnern – an das Mädchen, an seine Herkunft, an das, was nie ausgesprochen wurde.
Eine Erzählung über das Verschwinden – und das, was bleibt
Was Für Polina so besonders macht, ist seine Konsequenz im Erzählerischen: Würger verzichtet auf große Spannungsbögen, dramatische Höhepunkte oder laute Gesten. Er beobachtet, tastet, beschreibt. In Hannes’ Geschichte geht es nicht um Action, sondern um das langsame Entgleiten eines Menschen aus seinem eigenen Leben – und um den Versuch, sich über Klänge, über Erinnerungen, über kleine Details wieder zu verankern.
Dabei bleibt vieles offen. War Polina real? Oder ist sie ein Projektionsraum für all das, was Hannes fehlt? Der Roman lässt sich lesen als psychologische Studie, als poetisches Coming-of-Age oder als melancholische Fabel über Verlorenheit – je nachdem, welche Perspektive man einnimmt.
Würgers großes Talent liegt darin, diese Ambivalenz nicht nur zuzulassen, sondern literarisch fruchtbar zu machen. Sein Roman wirkt wie ein Musikstück: mit Wiederholungen, Motiven, Brüchen und einer Struktur, die weniger auf Handlung als auf Gefühl beruht.
Stilistisch klar, inhaltlich durchlässig – Würgers leise Sprache
Wer Takis Würger kennt, weiß, dass seine Prosa oft ruhig und unaufgeregt ist. In Für Polina perfektioniert er diesen Stil. Die Sätze sind kurz, fast spröde. Jeder Absatz scheint mit der Pipette gesetzt – kein Wort zu viel, keines zu wenig. Dieser Minimalismus wirkt nicht kalt, sondern durchlässig. Vieles passiert zwischen den Zeilen: Gefühle, Erinnerungen, Andeutungen, die nicht ausgesprochen, aber spürbar sind.
Der Rhythmus ist langsam, fast meditativ. Man liest Für Polina nicht schnell – man taucht ein, lässt sich treiben, wird von der Musik der Sprache getragen. Dass diese literarische Zurückhaltung kein Mangel ist, sondern eine bewusste Entscheidung, merkt man spätestens, wenn man nach der letzten Seite innehält – und merkt, wie viel eigentlich gesagt wurde.
Für wen ist dieses Buch geschrieben?
Wer leise Literatur liebt, wird mit Für Polina ein außergewöhnliches Leseerlebnis haben. Das Buch eignet sich für Leserinnen und Leser, die sich für psychologisch dichte Stoffe interessieren, die Subtilität wertschätzen, und die keine Scheu davor haben, sich auf emotionale Leerstellen einzulassen.
Auch Menschen mit einer Affinität zu Musik, zu Zwischenmenschlichem, zu Fragen nach Identität und Herkunft werden sich hier wiederfinden. Es ist kein Roman für Zwischendurch, sondern ein Werk, das Aufmerksamkeit verlangt – und mit Tiefe belohnt.
Ein Roman zur richtigen Zeit
In einer Zeit, in der das Tempo in vielen Lebensbereichen immer weiter anzieht, wirkt ein Buch wie Für Polina fast wie ein literarischer Gegenentwurf. Es lädt zur Entschleunigung ein. Es sagt: Nicht jede Geschichte braucht einen lauten Knall. Manchmal reicht ein Ton. Eine Erinnerung. Eine Spur, die wieder hörbar gemacht wird.
Gerade deshalb wirkt dieses Buch so relevant. Es zeigt, dass Verlust, Identität und Sehnsucht nicht die großen Worte brauchen – sondern nur einen stillen Erzähler und eine Handvoll Töne.
Ein stiller, berührender Roman über das, was nicht vergeht
Takis Würger hat mit Für Polina einen Roman geschrieben, der lange nachklingt. Es ist kein dramatisches Buch – aber eines mit großer innerer Wucht. Wer sich auf die reduzierte Sprache, die leisen Töne und die existenzielle Tiefe einlässt, wird belohnt mit einer Geschichte, die weniger erzählt als spürbar macht.
Wer ist Polina? Wer war Hannes? Was war das zwischen ihnen? Würger gibt keine endgültigen Antworten. Und gerade deshalb gelingt ihm etwas Seltenes: Ein Roman, der mehr durchlässt, als er ausspricht – und der das Herz nicht durch Pathos, sondern durch Stille erreicht.
Über den Autor – Takis Würger
Takis Würger, geboren 1985 in Hohenhameln, ist Journalist und Autor. Nach seiner Ausbildung an der Henri-Nannen-Schule arbeitete er unter anderem für den „Spiegel“ und wurde mehrfach ausgezeichnet. Sein Romandebüt Der Cluberschien 2017 und wurde ein Bestseller. Es folgten Stella, ein umstrittenes Buch über Liebe im Nationalsozialismus, und zuletzt Noah, ein spannender Mix aus Politthriller und Identitätssuche.
Würgers Stil ist geprägt von Reduktion, emotionaler Tiefe und einem Gespür für das Unsichtbare. Mit Für Polina legt er seinen vielleicht persönlichsten, sicher aber seinen poetischsten Roman vor – ein leises Meisterwerk über das, was nicht gesagt werden kann, aber trotzdem bleibt.
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