Siegfried Unseld und das Schweigen: Eine deutsche Karriere

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Manchmal genügt eine Karteikarte, um ein Denkmal ins Wanken zu bringen. Die ZEIT berichtet in ihrer aktuellen Ausgabe von einem Fund des Historikers Thomas Gruber, der im Bundesarchiv auf eine NSDAP-Mitgliederkarte stieß. Der Name darauf: Siegfried Unseld. Parteieintritt am 1. September 1942, beantragt als 17-jähriger Schüler aus Ulm. Kein Irrtum, keine Überführung im HJ-Marschschritt – sondern ein bewusster Antrag zur rechten Zeit. Hitler triumphiert an allen Fronten, die Wehrmacht steht am Elbrus, das Land berauscht sich an der Aussicht auf den Endsieg. Und Unseld? Trägt sich in die Partei ein.

Hg.: Raimund Fellinger, Matthias Reiner Siegfried Unseld Sein Leben in Bildern und Texten Suhrkamp

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Die Herkunft als Kontur

Dass der spätere Suhrkamp-Verleger aus einem nationalsozialistisch fest verankerten Elternhaus stammt – der Vater SA-Offizier, Beteiligter an den Novemberpogromen, die Mutter in der NS-Frauenschaft – passt in eine jener vielen Biografien, in denen persönliche Entscheidung und ideologisches Umfeld kaum zu trennen sind. Als Fähnleinführer im Jungvolk kommandiert Unseld bereits 160 Jungen, er deklamiert „Hölderlin fürs Vaterland“ auf der Einberufungsfeier. Der Weg in die Partei war weder ungewöhnlich noch zwangsläufig – er war naheliegend. Und wurde beschritten.

Erfolgsgeschichten ohne Rückspiegel

Doch das eigentlich Verstörende ist nicht die Mitgliedschaft – sondern das, was danach kam. Unseld, der Überlebende von Sewastopol, der spätere Suhrkamp-Direktor, der Freund von Adorno und Kissinger, wird zu einem der einflussreichsten Kulturvermittler der Bundesrepublik. Und schweigt. Jahrzehntelang. Kein Hinweis, kein späte Läuterung, kein brüchiges Interview im Herbst des Lebens. Nichts.

In seinem Verlag erscheinen die großen Kritiker des Nationalsozialismus, die Emigranten, die Rückkehrer, die moralischen Gewissen. Doch der Mann, der all das möglich machte, bleibt stumm zu seiner eigenen Vergangenheit. Die Verwandlung vom Parteimitglied zum intellektuellen Architekt des neuen Deutschlands vollzieht sich im Modus des Verschweigens – und niemand, wirklich niemand, will Genaueres wissen.

Ein Land, das lieber nach vorn sah

Denn so sehr wir heute auf Einzelne zeigen, darf man die Bühne nicht aus dem Blick verlieren. Die junge Bundesrepublik wollte vieles – aber keine vollständige Aufklärung. Vor allem nicht bei denen, die Talent, Fleiß und Charisma mitbrachten. Wer als junger Intellektueller nach 1945 auf die falsche Seite gesetzt hatte – was nicht selten der Fall war – tat gut daran, sich selbst neu zu erzählen. Und wurde dabei oft nur zu gern unterstützt. Die Universitäten, Ministerien, Redaktionen, Verlage: Sie alle waren durchsetzt mit Alt-Nazis und Mitläufern. Und mit dem strukturellen Wunsch, das Vergangene vergangen sein zu lassen.

Unseld war nicht der einzige, der schwieg. Aber er war einer der klügsten – und erfolgreichsten. Die Mischung aus Eitelkeit, Publikationsmacht und einer geschickten Mythologie des Neuanfangs ließ die Frage nach der NSDAP-Mitgliedschaft wie aus einer anderen Welt erscheinen. Selbst seine Freunde – Habermas, Kluge, Enzensberger – sprachen ihn offenbar nie darauf an. Vielleicht, weil sie es nicht wussten. Vielleicht, weil sie es nicht wissen wollten.

Das Erbe des Verschweigens

Was Gruber nun offenlegt, ist keine moralische Enthüllung, sondern ein historischer Stolperstein: Er zeigt, wie die Biografie eines Einzelnen zum Brennglas werden kann für die widersprüchlichen Narrative einer Gesellschaft, die sich aufklärerisch gab, aber das Schweigen als kulturelle Technik perfektionierte. Unselds Karriere ist ein Teil dieses deutschen Nachkriegspanoramas – ein Aufstieg, genährt von Intellekt, Bildung, Machtwillen. Und von der stillschweigenden Übereinkunft, bestimmte Fragen einfach nicht zu stellen.


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