Ein Kanon in Bewegung – Wie der SPIEGEL die Weltliteratur neu vermisst

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Letzten Herbst hat der SPIEGEL leise, aber bestimmt den deutschsprachigen Literaturkanon entstaubt: Eine Liste der 100 wichtigsten Prosawerke von 1924 bis 2024, klug zusammengestellt, weniger normativ als einst Reich-Ranicki, eher ein Gesprächsangebot als ein Urteil von oben. Und nun, nur ein paar Monate später, folgt der zweite Streich – diesmal global gedacht. Zum ersten Mal wagt sich die Redaktion an einen weltumspannenden Kanon der Erzählkunst, der sich nicht mit den immer gleichen Klassikern zufriedengibt, sondern versucht, den literarischen Pulsschlag eines ganzen Jahrhunderts zu vermessen. Von 1925 bis 2025, von Woolf bis Vuong. Hier gehts zum Spiegel Artikel.

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Vier Perspektiven, ein Ziel: Literatur als Weltgespräch

Die Jury ist dabei mehr als ein Feigenblatt der Diversität – sie ist eine Komposition mit Kalkül. Eva Horn, die den Klimawandel auch als literarisches Motiv dechiffriert. Miryam Schellbach, die sich durch arabische Erzählkunst liest wie andere durch Netflix-Serien. Michael Maar, ein Stilpurist mit einer Schwäche für das schiefe Genie. Und Peter Sloterdijk, der mit gewohnter Grandezza auch afrikanische Literatur nicht aus dem Blick verliert. Man ahnt: Diese Liste ist keine Best-of-Leselounge, sondern ein Versuch, Literatur als weltweites, widersprüchliches, vielsprachiges Gespräch zu verstehen.

Lesen, was verfilmt wurde – Wenn der Kanon auf den Bildschirm trifft

Und noch etwas fällt auf: Viele der nun gekürten Werke sind nicht etwa stille Klassiker, sondern haben in den letzten Jahren neue Popularität erlangt – ausgerechnet über jene Kanäle, die einst als Totengräber des Lesens galten. Serienadaptionen, Streamingtauglichkeit, literarische Reanimation via Bildschirm. Meine geniale Freundin von Elena Ferrante? Ein Serienhit. Der Leopard von Lampedusa? Netflix verfilmte gerade erst, mit viel barockem Pomp und politischem Unterton. Hundert Jahre Einsamkeit? Die Serie, lange angekündigt, feierte Ende 2024 ihre Premiere auf Netflix – in spanischer Sprache, mit vielstimmigem Ensemble und erstaunlicher Werktreue. Und Ocean Vuong? Bereits im Feuilleton, bald auch auf den Laptops von Literaturstudenten, die lieber schauen als blättern.

Der neue Kanon reagiert also nicht nur auf ästhetische Kriterien, sondern auch auf kulturelle Zirkulationen. Er weiß, dass Literatur heute nicht nur gelesen, sondern gesehen wird. Dass ein Buch wieder ins Gespräch kommt, wenn es auf dem Bildschirm flackert. Und dass die Frage nach dem „Besten“ ohnehin nicht objektiv zu beantworten ist – aber sehr wohl im kollektiven Gedächtnis der Zeit ihre Spuren hinterlässt.

Zwischen Lolita und Lispector – Wer heute dazugehört

Natürlich sind auch die alten Meister vertreten. Mrs. Dalloway, Der Fremde, Lolita – sie stehen da wie elegante Anker im aufgewühlten Strom literarischer Erzählweisen. Aber ebenso finden sich Werke, die lange zu Unrecht als zu sperrig, zu leise oder zu lokal galten. Clarice Lispector. Maryse Condé. Ngũgĩ wa Thiong’o. Sie zeigen, wie die literarische Moderne an den Rändern gedacht wurde – und dass das Zentrum manchmal bloß eine Frage der Perspektive ist.

Deutschsprachig, aber nicht provinziell – Die andere Liste vom letzten Jahr

Vergleicht man die neue Liste mit dem deutschsprachigen Kanon vom letzten Jahr, fällt auf: Die thematische Nähe ist erstaunlich. Migration, Erinnerung, politische Gewalt, weibliche Stimmen, autofiktionale Formen. Und doch weitet sich der Blick: Während die deutschsprachige Liste stärker auf innere Topografie und gesellschaftliche Brüche im eigenen Sprachraum schaut, tastet sich der Weltkanon an die Bruchlinien des Globalen heran. Postkoloniale Umschreibungen klassischer Texte, neue poetologische Formen, literarische Archäologie als Widerstand.

Kanonisierung im 21. Jahrhundert – Spiegel, Prisma, Resonanzraum

Letztlich zeigt sich: Der Kanon ist kein Museum, sondern ein Spiegel – und manchmal ein Prisma. Er erzählt nicht, was war, sondern was zählt. Und manchmal hilft sogar Netflix dabei mit. Wer hätte das gedacht?

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