Der Brief an den Vater, den Franz Kafka 1919 in Schelesen bei Prag schrieb, gehört zu den zentralen Texten der modernen Weltliteratur. Nun ist das ikonische Manuskript, das 100 Seiten im Oktav-Format umfasst und sich in bemerkenswert gutem Zustand befindet, für das Deutsche Literaturarchiv Marbach gesichert worden. Dies wurde durch die Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, des Landes Baden-Württemberg, privater Stiftungen sowie des Verlegers Thomas Ganske ermöglicht, der das Manuskript 1983 erwarb und es seither als Leihgabe dem Archiv zur Verfügung stellte.
Ein Manuskript mit Geschichte
Kafkas Brief ist mehr als eine Abrechnung mit dem übermächtigen Vater – er ist eine schonungslose Selbstanalyse. Zwischen Erinnerung und literarischer Inszenierung schwankend, zeichnet er das Bild eines tyrannischen Patriarchen, ohne je ganz erkennen zu lassen, wie nah es der Realität kommt. Wie so oft bei Kafka verwischen die Grenzen zwischen persönlicher Erfahrung und poetischer Verdichtung. Was bleibt, ist ein Dokument existenzieller Zerrissenheit – und eine Schlüsselszene seines gesamten Werks.
Vom privaten Schreiben zur literarischen Ikone
Kafka schrieb den Brief nach einem Streit mit seinem Vater über seine geplante Heirat mit der Sekretärin Julie Wohryzek. In minutiöser Präzision rekonstruiert er darin die jahrzehntelange Übermacht des Vaters, der ihn klein hielt, demütigte und einschüchterte. Punkt für Punkt trägt Kafka seine Klage vor – wie ein juristischer Schriftsatz, der nicht nur den Vater, sondern auch die eigene Ohnmacht enthüllt.
Dass der Brief sein Ziel nie erreichte, sondern erst 1952 in der „Neuen Rundschau“ veröffentlicht wurde, verleiht ihm eine zusätzliche Tragik. Seitdem gilt er als Schlüsseltext, nicht nur für das Verständnis von Kafkas Leben, sondern auch für seine Romane „Der Process“ und „Das Schloss“, die ähnliche Themen der Abhängigkeit und Machtverhältnisse verhandeln.
Ein bedeutender Erwerb für die Literaturgeschichte
Das Manuskript hatte eine bewegte Geschichte: Nach Kafkas Tod gelangte es zunächst in den Besitz seines Freundes Max Brod, durchlief verschiedene Stationen und wurde schließlich 1982 vom Münchner Antiquariat Ackermannerworben, wo es in die Hände von Thomas Ganske kam. Der nun endgültige Verbleib in Marbach sichert den Fortbestand dieses einzigartigen Dokuments in öffentlichem Besitz – eine Entscheidung, die nicht nur literarisch, sondern auch kulturpolitisch von großer Bedeutung ist.
Kafka im Marbacher Literaturmuseum
Der „Brief an den Vater“ ist derzeit in der Ausstellung „Kafkas Echo“ im Literaturmuseum der Moderne zu sehen. Aufgrund des enormen Publikumsinteresses wurde die Ausstellung bis zum 22. Juni 2025 verlängert – ein Zeichen dafür, dass Kafka heute lebendiger denn je ist.
Der Brief bleibt eine literarische Zeitbombe: ein erschütterndes Selbstzeugnis, das sich gegen den Vater richtet – und doch vor allem die Qual des eigenen Ichs offenbart.