Ein literarisches Echo aus vier Jahrzehnten Thomas Brasch: "Du mußt gegen den Wind laufen" – Gesammelte Prosa

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Suhrkamp hat am 13.01.2025 Thomas Brasch: "Du mußt gegen den Wind laufen" – Gesammelte Prosa veröffentlicht.

Thomas Brasch "Du mußt gegen den Wind laufen" – Gesammelte Prosa Thomas Brasch "Du mußt gegen den Wind laufen" – Gesammelte Prosa Die editorische Erschließung der unveröffentlichten Prosatexte von Thomas Brasch gibt uns einen neuen, frischen Blick auf sein Werk. Herausgeberin Martina Hanf hat ein komplexes Bild zusammengestellt – kein weichgespülter Mythos, sondern Texte eines Autors, der zeigte, dass sein Leben das Schreiben war – und Schreiben sein Widerstand. Suhrkamp Verlag

Dieser Band versammelt Thomas Braschs Prosa – veröffentlicht und unveröffentlicht – von 1956 bis 2000, mit Ausnahme des Romankonvoluts Mädchenmörder Brunke. Vom ersten Märchen Fuchs, Adler und Nilpferd (1956) bis zu den späten Widmungstexten für Heiner Müller reicht die Spannweite. Dazwischen liegt der große Wendepunkt: Vor den Vätern sterben die Söhne, ein Erzählband, der in der DDR nur mit massiven Eingriffen hätte erscheinen können und Brasch stattdessen in den Westen trieb.

Vom Wunderkind zum Unbequemen

Thomas Brasch – nicht nur ein großer Schriftsteller, sondern eine Kultfigur seiner Zeit. Ein gutaussehender Rebell, ein lauter Melancholiker, ein selbstgerechter Zweifler, ein Getriebener, der sein Leben lang gegen Wände rannte und manchmal durch sie hindurchbrach. Sein Werk ist kein geordnetes Archiv, sondern ein aufgewühltes Meer aus Geschichten, Widersprüchen, Attacken und Zärtlichkeiten. Wer Brasch liest, muss bereit sein, sich an ihm zu reiben.

Schon früh war klar: Hier schreibt einer, der sich nicht einfügt. Er wird von der Universität Leipzig geworfen – zu viel Existenzialismus, zu wenig Linientreue. Er landet im Gefängnis, weil er gegen den Einmarsch der Sowjets in Prag protestiert. Als Vor den Vätern sterben die Söhne in der DDR nur zensiert erscheinen dürfte, verlässt er das Land. Nicht aus Überzeugung, sondern weil er dort nicht schreiben konnte.

Brasch als Chronist und Prophet

„Ich glaube, daß wir als Schriftsteller die Aufgabe haben, die Widersprüche, die wir empfinden, so laut und so wichtig zu formulieren, daß das Gespräch über den Frieden im Grunde überflüssig wird.“

Er schrieb nicht, um zu gefallen, sondern um zu treffen – und oft auch um zu verletzen. Seine Figuren sind ruhelos, seine Sätze oft kurz, scharf, schmerzhaft.

„Zuerst spürte ich seinen Kopf, der stark auf meine Blase drückte, und einige Minuten später den Schwanz, der in meinem Mund wedelte. Ich wollte nicht darüber nachdenken, wie der Wolf in mich hineingekommen war und warum er verkehrt lag. Ich stieg in die Straßenbahn 63 und fuhr zum Krankenhaus Friedrichshain. (…) Wenn wir den Wolf aus Ihnen herausnehmen, werden Sie sterben, sagte der Arzt. Ich stand auf und verließ den Operationsraum.“ (Thomas Brasch, Vor den Vätern sterben die Söhne)

1977 erscheint Vor den Vätern sterben die Söhne im Westen. Es ist keine sanft geglättete Prosa, sondern rau, geschweißt, die Nähte sichtbar. Ein Buch, das rebellische Jugend und erschöpfte Arbeiter zeigt, das die Unruhe seiner Zeit einfängt. Und doch war Brasch plötzlich das, was er nie sein wollte: ein gefeierter Dissident, umarmt von der konservativen Presse. Sein „Meinland“ blieb die DDR – selbst im Exil konnte er nicht loslassen.

"Ich will nicht mehr wohnen wo ich wohne Ich will nicht mehr sein wo ich bin Ich will nicht mehr sehen was ich sehe Ich will nicht mehr wissen was ich weiß Ich will nicht mehr lieben wen ich liebe..."(Thomas Brasch, aus dem Gedichtband Woanders)

Kein leiser Abschied

Die letzten Jahre? Ein langsames Verschwinden aus der Öffentlichkeit, aber kein leiser Rückzug. Brasch schrieb für die Schublade, vergrub sich in tausende Seiten über den Mädchenmörder Brunke, ein Werk, das bis heute im Nachlass schlummert. War es sein letztes großes Projekt? Oder war es, wie so vieles bei ihm, ein Kampf gegen das Vergessen?

„Biographie war wichtiger als ein Stück, Gedicht oder Film.“ Vielleicht war das seine Tragik: Er war nicht nur ein großer Autor, sondern auch eine Projektionsfläche, eine Figur, die man sehen wollte – als Dichter, Rebell, Filmemacher, Frauenheld. Doch hinter all dem stand einer, der sich selbst nie so ganz verstand.

Schreiben war für ihn Leben. Und Leben war Widerstand.

Die editorische Erschließung der unveröffentlichten Prosatexte von Thomas Brasch gibt uns einen neuen, frischen Blick auf sein Werk. Herausgeberin Martina Hanf hat ein komplexes Bild zusammengestellt – kein weichgespülter Mythos, sondern Texte eines Autors, der zeigte, dass sein Leben das Schreiben war – und Schreiben sein Widerstand. Die sorgfältigen Anmerkungen ermöglichen eine Neuentdeckung dieses außergewöhnlichen Autors.

Unbedingte Empfehlung: Masha Qrellas Vertonungen seiner Gedichte

Masha Qrella: Ihr Album Woanders (2021) hat Braschs Lyrik auf faszinierende Weise zurückgebracht. Mit ihrer modernen Indie-Pop- und Elektronik-Ästhetik lässt sie seine Texte atmen und leben, als wären sie für unsere Zeit geschrieben. Durch ihre Vertonungen wird Braschs Poesie neu erlebbar und findet ihren Platz in einer zeitgenössischen musikalischen Landschaft.


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