Die Wahl von Olga Tokarczuks "Jakobsbücher" zum besten polnischen Buch der letzten 25 Jahre durch die "Gazeta Wyborcza" ist ein großes literarisches Ereignis in Polen. Diese Entscheidung unterstreicht nicht nur den Stellenwert der Nobelpreisträgerin, sondern zeigt auch eine Verlagerung des polnischen Literaturkanons hin zu politisch und historisch engagierten Werken.
Ohne Frage ein literarisches Meisterwerk
Tokarczuks "Jakobsbücher" ist ein monumentaler historischer Roman, der die Lebensgeschichte des jüdischen Mystikers und Sektenführers Jakob Frank im 18. Jahrhundert erzählt. Die Autorin entfaltet das Panorama einer Epoche, in der religiöse Grenzen verschwimmen und politische Umwälzungen eine Welt im Wandel formen. Sie lässt die Stimmen zahlreicher Figuren erklingen und verbindet ihre Schicksale zu einem dichten polyphonen Geflecht. In dieser erzählerischen Weite stellt sie Macht, Identität und Ideologie in den Mittelpunkt und zeigt, wie sich Franks Bewegung zwischen Judentum, Christentum und Islam verortet.
Warum Tokarczuk?
Dass sich gerade dieses Werk durchgesetzt hat, verweist auf eine literarische Entwicklung, die sich von Nationalepen und nostalgischen Rückblicken auf die kommunistische Vergangenheit entfernt. Stattdessen steht ein Roman im Mittelpunkt, der sich mit religiöser Diversität, Grenzgängertum und der komplexen Stellung Polens in der europäischen Geschichte auseinandersetzt. Tokarczuk, die oft als "Gewissen Polens" bezeichnet wird, hat mit ihrer kritischen Betrachtung nationalistischer Geschichtsbilder immer wieder konservative Kreise provoziert. Ihre Wahl zeigt, dass eine Leserschaft existiert, die sich solchen Herausforderungen offen stellt und bereit ist, sich mit der Vergangenheit in all ihrer Widersprüchlichkeit auseinanderzusetzen.
Ein politisches Signal
Diese Entscheidung ist nicht nur eine literarische Ehrung, sondern auch ein politisches Signal. Während die polnische Regierung ein homogenes, heldenhaftes Narrativ der nationalen Geschichte propagiert, erzählt Tokarczuk eine andere, vielschichtige und ambivalente Geschichte. Ihre Auszeichnung verweist auf eine intellektuelle Landschaft, die sich einer kritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht verschließt, sondern sie als notwendigen Bestandteil gesellschaftlicher Reflexion begreift.
Dunkelheit und Hoffnung
Tokarczuks Erzählweise ist durchdrungen von einer Tiefenschärfe, die sich aus dem Ineinandergreifen verschiedener Perspektiven ergibt. Ihr Stil verbindet historische Präzision mit einem Hauch von Mystik und einem untrüglichen Gespür für narrative Vielstimmigkeit. Die serbische Übersetzerin Milica Markić beschreibt Tokarczuk als eine Schriftstellerin voller Dunkelheit, deren Werke jedoch immer auch einen Lichtstrahl der Hoffnung enthalten. Sie hat insgesamt dreizehn Bücher der Nobelpreisträgerin ins Serbische übertragen und erkennt in Tokarczuks Werk eine enge Verbindung zur Problematik kollektiver Identität. Besonders ihre Darstellung der jüdischen Identität als verborgenem Teil der polnischen Geschichte empfindet sie als tief berührend. Sie selbst fühlt nach dem Zerfall Jugoslawiens einen "Phantomschmerz", den sie in Tokarczuks Werk wiederfindet.
Blick in die Geschichte
Die "Jakobsbücher" zeigen das Polen des 18. Jahrhunderts in seiner ganzen Widersprüchlichkeit. Die polnisch-litauische Adelsrepublik kurz vor ihrer Aufteilung durch Russland, Preußen und Österreich erscheint als ein Raum voller kultureller und religiöser Brücken, aber auch als ein Schlachtfeld ideologischer Kämpfe. Jakob Frank selbst ist eine Figur der Extreme, ein Sektenführer, der Grenzen zwischen Judentum, Christentum und Islam übertritt, ein Mann, der zugleich Anführer und Hochstapler ist, der Tausende in seine Bewegung zieht, aber auch ihre Existenzen zerstört. Die Geschichte folgt seinen Spuren von Polen bis ins Osmanische Reich und später nach Wien und Offenbach, wo er schließlich in Vergessenheit gerät.
Macht, Manipulation und Erinnerung
Tokarczuks Werk ist keine typische historische Chronik, sondern stellt einen tiefen Einblick in den Glauben, Manipulation und Macht dar. Sie zeigt, wie Geschichte von denen geformt wird, die sie erzählen, und wie sich Mythen verfestigen, wenn sie unkritisch übernommen werden. Dabei durchzieht das Buch ein Bewusstsein für die Unsichtbaren, die Vergessenen, die, die aus den großen Erzählungen der Nationen herausfallen. Die polnische Leserschaft hat die Wahl für ein literarisches Werk getroffen, das es verdient gelesen zu werden.