Mit „Wackelkontakt“, erschienen am 9. Januar 2025 im Hanser Verlag, hat Wolf Haas etwas geschaffen, das sich jeder einfachen Beschreibung entzieht. Ein Buch, das uns lachen lässt, und gleichzeitig spüren lässt, wie nah Geschichten uns kommen können. Es ist ein Roman, der durch seinen Humor und seine klugen Wendungen beeindruckt, aber vor allem durch eine Konstruktion, die so frisch und mutig ist, dass man unweigerlich in den Bann gezogen wird. Was macht dieses Buch so besonders? Vielleicht ist es die Frage, wie nah wir den Figuren kommen – oder sie uns. (Leseprobe)
Ein Buch, das uns lesen lässt, wie wir leben: „Wackelkontakt“ von Wolf Haas
Eine Steckdose, ein Buch, eine Welt in Bewegung
Es fängt alles so einfach an: Franz Escher, ein Trauerredner, wartet auf einen Elektriker. Seine Steckdose hat einen Wackelkontakt, der ihn dazu zwingt, sich die Zeit zu vertreiben. Wie er das macht? Natürlich mit einem Buch. Und dieses Buch – darin liegt der Clou – handelt von Elio Russo, einem Mafia-Kronzeugen, der im Gefängnis sitzt und sich die Nächte mit dem Lesen eines Buches vertreibt. In diesem Buch liest er über Franz Escher, der auf den Elektriker wartet.
Das klingt nach einer Spielerei? Vielleicht. Aber es ist viel mehr. Es ist, als ob Haas uns dazu einlädt, nicht nur den Figuren zuzuschauen, sondern die Geschichten selbst mitzuerleben. Manchmal bleibt man sogar stehen und denkt: Was, wenn die Figuren uns ebenso lesen, wie wir sie? Diese Idee, dass Geschichten nie wirklich nur für uns sind, sondern uns vielleicht genauso schreiben, ist das, was „Wackelkontakt“ so unglaublich spannend macht.
Franz Escher: Ein Puzzle aus Leben und Ordnung
Franz Escher ist kein gewöhnlicher Protagonist. Er ist eigenbrötlerisch, manchmal fast unbeholfen, und doch so menschlich, dass man ihn sofort verstehen möchte. Seine größte Leidenschaft? Puzzles. Aber nicht nur irgendwelche – Escher liebt die, die ein Chaos in Ordnung bringen sollen. Und genau das spiegelt seine Welt wider. Er sucht nicht nach großen Antworten, sondern nach kleinen Lösungen, die das Leben ein bisschen klarer machen.
Was Haas dabei so großartig gelingt, ist, wie er Escher als Figur baut: Er ist kein Held, er will keiner sein, und genau deshalb bleibt er einem im Gedächtnis. Er liest Mafia-Bücher, vielleicht, weil sie ihm eine Welt zeigen, die so weit weg von seinem geordneten Leben liegt, dass er sie nie wirklich fürchten muss – oder weil sie so etwas wie eine Karte bieten, um das Chaos zu verstehen. Und so sitzt er da, liest über Elio, und wir fragen uns: Warum? Vielleicht ist es genau das, was wir alle tun, wenn wir lesen – uns selbst ein bisschen besser verstehen.
Elio Russo: Ein Leben voller Verrat und Warten
Auf der anderen Seite steht Elio Russo. Ein Mann, der alles verloren hat – und alles verraten musste, um zu überleben. Er lebt in ständiger Angst, in einem Zeugenschutzprogramm, das ihn sicher halten soll, während er gleichzeitig weiß, dass Sicherheit nur eine Illusion ist. Elio liest, weil er nicht schlafen kann. Er liest, weil er das Chaos seines Lebens irgendwie begreifen will – und weil er sich vor Sven, seinem Zellengenossen, schützen muss. Das Buch, das ihm Sven gibt, handelt von Franz Escher. Der Kreis schließt sich.
Elio ist ein faszinierender Gegenpol zu Escher. Wo Escher die Ordnung sucht, lebt Elio in einer Welt, die nur aus Chaos besteht. Aber beide sind auf ihre Weise suchend. Was Haas hier schafft, ist mehr als eine Parallele – es ist eine Reflexion. Zwei Figuren, die sich nie treffen, und doch so viel voneinander verstehen könnten. Ihre Geschichten sind wie zwei Seiten eines Spiegels: unterschiedlich, aber untrennbar miteinander verbunden.
Was Geschichten wirklich sind
Vielleicht ist „Wackelkontakt“ am besten als ein Buch über Geschichten zu beschreiben. Über das Lesen, das Schreiben, das Leben in ihnen. Haas bricht hier jede Regel: Er lässt Figuren voneinander lesen, ohne dass sie es wissen. Er verwebt zwei Leben, die in völlig unterschiedlichen Zeitzonen existieren – Eschers Geschichte umfasst nur wenige Tage, während Elios sich über Jahrzehnte erstreckt. Und doch läuft alles auf einen Punkt hinaus, an dem Anfang und Ende nicht mehr zu unterscheiden sind.
Was Haas hier macht, ist nichts weniger als ein literarisches Puzzle. Es ist nicht nur ein Spiel – es ist eine Einladung, die Idee von Geschichten neu zu denken. Können Figuren sich selbst beeinflussen? Können sie uns beeinflussen? Und wo hören wir selbst auf, nur Leser zu sein? Diese Fragen schweben über „Wackelkontakt“, ohne dass Haas sie jemals direkt stellt. Aber sie sind da. Und sie machen dieses Buch zu etwas, das man nicht so leicht vergisst.
Humor, Tiefe und ein elektrisierendes Finale
Was „Wackelkontakt“ so besonders macht, ist nicht nur seine Konstruktion. Es ist auch der Humor, der feine Witz, der in jeder Zeile steckt. Haas hat ein unglaubliches Talent dafür, die Absurditäten des Lebens mit einer Leichtigkeit zu beschreiben, die gleichzeitig tief geht. Ob es Eschers Puzzelleidenschaft ist oder Elios Paranoia – Haas bringt uns dazu, zu schmunzeln und dabei nachzudenken.
Und dann kommt das Finale. Ein Punkt, an dem alles zusammenläuft. Die Geschichten von Escher und Elio, die so weit voneinander entfernt scheinen, finden einen gemeinsamen Raum, in dem sie sich berühren. Es ist ein Moment, der nicht nur spannend, sondern auch überraschend ist. Es zeigt, wie sehr Haas die Struktur eines Romans als Kunstform begreift – und wie meisterhaft er damit spielt.
Warum „Wackelkontakt“ lesen?
Weil es anders ist. Weil es frisch ist. Weil es uns zeigt, dass Geschichten nicht nur erzählt werden, sondern etwas mit uns machen können. Wolf Haas hat mit „Wackelkontakt“ ein Buch geschrieben, das nicht nur unterhält, sondern uns auch herausfordert. Es ist ein Buch, das man nicht einfach liest – man erlebt es. Und wenn man fertig ist, will man noch einmal von vorne beginnen, um zu sehen, wie alles zusammenpasst. „Wackelkontakt“ ist ein Buch, das fragt, wie wir leben, wie wir lesen, und was wir von Geschichten erwarten. Es ist klug, witzig, berührend – und vor allem: ein großes Vergnügen.
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