Vor den Augen der Welt – Eine Rezension zu Simon Shusters Biografie über Wolodymyr Selenskyj

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Simon Shusters Buch „Vor den Augen der Welt: Wolodymyr Selenskyj und der Krieg in der Ukraine“ ist eine der ersten umfassenden Biografien über den ukrainischen Präsidenten, der in den letzten Jahren zu einer der prägendsten politischen Figuren Europas aufgestiegen ist.

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Der TIME-Korrespondent Shuster, der seit über einem Jahrzehnt über Russland und die Ukraine berichtet, zeichnet ein vielschichtiges Porträt Selenskyjs, angefangen bei seiner Karriere als Komiker bis hin zu seiner Rolle als Staatschef, der sich mit einer der größten geopolitischen Krisen unserer Zeit konfrontiert sieht. Doch bietet das Buch mehr als nur eine bloße Biografie: Es ist ein tiefgründiger Einblick in die Dynamiken eines Krieges und die politische Entwicklung der Ukraine.

In dieser Rezension wird das Buch kritisch beleuchtet und analysiert, inwieweit es den Erwartungen gerecht wird, eine neutrale und umfassende Darstellung der Ereignisse und der Persönlichkeit Wolodymyr Selenskyjs zu liefern.

Ein fesselndes Thema – Die richtige Zeit für eine Selenskyj-Biografie?

Shusters Werk erscheint zu einem Zeitpunkt, an dem das Interesse der Weltöffentlichkeit an der Ukraine und ihrem Präsidenten enorm ist. Seit dem Beginn des Krieges im Februar 2022 steht Wolodymyr Selenskyj im Rampenlicht der internationalen Medien. Viele sehen in ihm einen modernen Helden, einen charismatischen Führer, der sein Land gegen einen übermächtigen Aggressor verteidigt. Shuster versucht, diesem Bild etwas mehr Tiefe zu verleihen und sowohl die positiven als auch die problematischen Seiten Selenskyjs zu zeigen.

Der Autor konzentriert sich in erster Linie auf Selenskyjs politische Karriere und die Entwicklung der Ukraine seit seiner Wahl zum Präsidenten im Jahr 2019. Dabei wird deutlich, wie ein ehemals weitgehend unerfahrener Politiker in die Rolle eines entschlossenen Staatschefs hineinwächst, der plötzlich vor der Aufgabe steht, sein Land in einem existenziellen Krieg zu führen.

Eine klare Struktur – Von der Vergangenheit in die Gegenwart

Das Buch ist in mehrere Abschnitte unterteilt, die chronologisch Selenskyjs Werdegang nachzeichnen. Shuster beginnt mit seiner Kindheit und Jugend im ukrainischen Krywyj Rih, beleuchtet seine Zeit als erfolgreicher Komiker und Fernsehstar und führt den Leser schließlich zu den dramatischen Ereignissen seiner Präsidentschaft.

Besonders interessant ist die Darstellung von Selenskyjs Aufstieg als Entertainer. In der populären Fernsehserie „Diener des Volkes“ spielte er einen einfachen Lehrer, der plötzlich Präsident wird. Dieses fiktive Szenario wurde wenige Jahre später zur Realität, als er tatsächlich in die höchste politische Position des Landes gewählt wurde. Shuster zeigt, wie Selenskyjs Popularität und sein öffentliches Image als Anti-Establishment-Figur ihm den Weg zur Macht ebneten.

Ein ungeschöntes Porträt – Licht und Schatten einer Präsidentschaft

Ein großer Pluspunkt des Buches ist Shusters Fähigkeit, eine kritische Distanz zu wahren. Während viele westliche Medien Selenskyj als makellosen Helden stilisieren, spart der Autor nicht mit Kritik an seinem Führungsstil und seiner politischen Vergangenheit. Besonders deutlich wird dies in der Beschreibung von Selenskyjs Umgang mit Oligarchen und der Korruption, die nach wie vor ein großes Problem in der Ukraine darstellt.

Shuster beschreibt, wie Selenskyj zunächst große Reformen versprach, jedoch bald mit den Realitäten der Macht konfrontiert wurde. Die Nähe zu bestimmten Oligarchen und der mangelnde Fortschritt in der Korruptionsbekämpfung werfen einen Schatten auf seine Regierungszeit. Dennoch stellt der Autor klar, dass Selenskyj in einer extrem schwierigen Lage agiert, insbesondere seit Beginn des russischen Angriffskrieges.

Ein weiterer kritischer Punkt, den Shuster anspricht, ist Selenskyjs Umgang mit politischen Gegnern. Während der Krieg viele seiner Maßnahmen rechtfertigen mag, weist der Autor darauf hin, dass die Einschränkung von Pressefreiheit und die Ausschaltung politischer Konkurrenz problematisch sind.

Die Darstellung des Krieges – Nah an der Realität?

Der zentrale Teil des Buches befasst sich mit dem Krieg in der Ukraine und Selenskyjs Rolle als Anführer seines Volkes. Shuster gelingt es, die dramatische Atmosphäre der ersten Kriegstage einzufangen, in denen unklar war, ob Kiew dem russischen Angriff standhalten würde. Der Leser erhält einen Eindruck davon, wie Selenskyj und sein engster Kreis diese kritischen Stunden erlebten und welche Entscheidungen getroffen wurden.

Besonders beeindruckend ist die Beschreibung der internationalen Diplomatie, in der Selenskyj es schaffte, die westlichen Staaten auf die Seite der Ukraine zu ziehen. Seine emotionalen Appelle an Regierungen und internationale Institutionen sind ein wichtiger Faktor dafür, dass sein Land heute umfangreiche militärische und finanzielle Unterstützung erhält.

Trotz dieser detaillierten Darstellung des Krieges bleibt die Frage, ob Shuster tatsächlich alle wichtigen Perspektiven einbezogen hat. Kritiker könnten bemängeln, dass das Buch stark aus westlicher Sicht geschrieben ist und die ukrainische Gesellschaft als Ganzes weniger zu Wort kommt. Ein tieferer Einblick in das Leben der normalen Bürger während des Krieges hätte das Buch noch eindringlicher gemacht.

Der Schreibstil – Präzise und fesselnd

Simon Shusters Stil ist journalistisch präzise und dennoch fesselnd. Seine Erfahrung als Reporter spiegelt sich in der klaren Sprache und der Fähigkeit, komplexe Sachverhalte verständlich darzustellen. Der Leser wird nicht mit unnötigen Details überfrachtet, sondern erhält eine gut strukturierte und leicht lesbare Darstellung der Ereignisse.

Kritik – Was fehlt?

Trotz der vielen Stärken des Buches gibt es einige Aspekte, die kritisiert werden können:

1. Einseitigkeit:

Auch wenn Shuster bemüht ist, eine kritische Distanz zu wahren, bleibt das Buch größtenteils aus der Perspektive der ukrainischen Regierung geschrieben. Die Sichtweise der Opposition oder unabhängiger Beobachter kommt nur am Rande vor.

2. Mangel an persönlichen Geschichten:

Während Shuster detailliert auf die politischen und diplomatischen Aspekte des Krieges eingeht, fehlen persönliche Geschichten von Bürgern, die den Krieg hautnah erlebt haben. Dadurch bleibt das Buch manchmal zu abstrakt und schafft es nicht, die volle emotionale Wucht des Krieges zu vermitteln.

Fazit – Ein wichtiges Buch mit kleinen Schwächen

„Vor den Augen der Welt“ ist ein lesenswertes Buch für alle, die ein tieferes Verständnis der aktuellen politischen Situation in der Ukraine und der Person Wolodymyr Selenskyj suchen. Simon Shuster bietet einen spannenden und gut recherchierten Einblick in die Hintergründe des Krieges und die Herausforderungen eines Präsidenten, der sich in einer existenziellen Krise befindet.

Dennoch wäre eine umfassendere Einbindung unterschiedlicher Perspektiven wünschenswert gewesen, um ein wirklich vollständiges Bild zu zeichnen. Wer jedoch einen soliden Einstieg in die Thematik sucht, wird mit diesem Buch gut bedient.


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