Der Roman „E.E.“ von Olga Tokarczuk, im Original 1995 in Polen veröffentlicht, liegt fast dreißig Jahre später erstmals in deutscher Übersetzung vor. Lothar Quinkenstein übertrug das Werk ins Deutsche, erschienen ist es im Schweizer Kampa Verlag. Die Veröffentlichung fügt sich in das Projekt ein, sämtliche Werke der Literaturnobelpreisträgerin nach und nach für das deutschsprachige Publikum zugänglich zu machen. „E.E.“ ist nicht nur ein Roman über ein junges Mädchen mit vermeintlich übersinnlichen Fähigkeiten, sondern auch eine subtile Auseinandersetzung mit historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Themen, die weit über die Handlung hinausweisen.
Worum geht´s
Die Geschichte spielt im Jahr 1908 in Breslau, einer Stadt, deren deutsch-polnische Identität symbolisch für die historischen Verschiebungen der Region steht. Im Mittelpunkt steht Erna Eltzner, die in einer großbürgerlichen Familie aufwächst. Ihr Vater, ein Textilfabrikant, ist emotional distanziert, während ihre Mutter eine Faszination für Spiritualismus entwickelt.
Kurz nach ihrem 15. Geburtstag wird Erna während eines Mittagessens ohnmächtig. Danach gibt sie an, Stimmen zu hören und einen Geist zu sehen. Ihre Mutter sieht darin eine Verbindung zu ihren eigenen medialen Fähigkeiten und beginnt, Séancen zu organisieren, die bald zahlreiche Gäste anziehen. Dazu gehören unter anderem:
- Frau Schatzmann, eine Witwe, die Kontakt zu ihrem verstorbenen Mann sucht.
- Ihr Sohn Arthur, ein wissenschaftlich interessierter Student.
- Dr. Löwe, ein skeptischer Familienarzt.
- Joachim Vogel, ein moderner Psychiater.
- Walter Frommer, ein esoterischer Okkultist.
Im Verlauf der Geschichte wird Erna zur Projektionsfläche für unterschiedliche Interessen: Sie dient spiritistischen Hoffnungen, wissenschaftlicher Neugier und gesellschaftlicher Spekulation. Dabei bleibt unklar, ob es sich bei ihren Phänomenen um übersinnliche Gaben, psychische Störungen oder gar Täuschung handelt.
Historischer Kontext und Verbindung zur deutschen Vergangenheit
Der Roman „E.E.“ beleuchtet auf subtile Weise die deutsche Geschichte Breslaus, einer Stadt, die durch die Westverschiebung Polens nach 1945 tiefgreifend geprägt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte sich Breslaus Identität grundlegend, als die deutsche Bevölkerung vertrieben und polnische Umsiedler, oft aus dem Osten wie Lemberg, in die Region kamen. Diese Veränderungen hinterließen nicht nur in der Architektur und den Kulturgütern, sondern auch im kollektiven Gedächtnis Spuren, die bis heute spürbar sind.
Als „E.E.“ in den 1990er Jahren entstand, befand sich Polen in einer Phase der Wiederentdeckung und Neubewertung seiner Geschichte. Unter der kommunistischen Herrschaft waren Themen wie die Westverschiebung und die damit verbundenen Vertreibungen tabuisiert. Erst in den 90er Jahren wurde es möglich, sich kritisch mit diesen Ereignissen auseinanderzusetzen und die eigene Vergangenheit neu zu betrachten.
Olga Tokarczuk, die in dieser Zeit im Glatzer Land lebte, fand dort zahlreiche Spuren der früheren deutschen Bewohner. Diese Hinterlassenschaften, ob physischer oder kultureller Natur, prägen ihr Werk und bilden ein zentrales Motiv. In „E.E.“ und späteren Romanen wie „Taghaus Nachthaus“ setzt sie sich mit Fragen von Identität, Erinnerung und den Verflechtungen von Geschichte auseinander.
Durch diese Auseinandersetzung wird „E.E.“ nicht nur zu einem literarischen Werk über individuelle und familiäre Konflikte, sondern auch zu einem eindringlichen Zeugnis über das Verhältnis von Geschichte und Gegenwart in einer Region, die immer wieder neu definiert wurde.
Ein frühes Werk von Tokarczuk - lesenswert
Mit „E.E.“ gelingt Tokarczuk ein vielschichtiges Werk, das die Leser sowohl durch seine Handlung als auch durch die dahinterliegende historische Dimension fesselt. Die Geschichte Ernas funktioniert auf mehreren Ebenen: Sie ist zugleich ein Porträt der bürgerlichen Gesellschaft Anfang des 20. Jahrhunderts, eine psychologische Studie und eine Reflexion über die Dynamik von Spiritualität und Wissenschaft.
Die Einbindung des historischen Kontexts verstärkt die Relevanz des Romans. Die Stadt Breslau wird zur Bühne, auf der sowohl persönliche als auch kollektive Geschichten verhandelt werden. Tokarczuk verweigert einfache Antworten, was die Ambivalenz der Erzählung zu einer ihrer Stärken macht.
Die Übersetzung von Lothar Quinkenstein fängt den atmosphärischen Stil Tokarczuks überzeugend ein. Dennoch erfordert die offene Struktur des Romans Geduld und Bereitschaft zur Interpretation. Leser, die klare Auflösungen erwarten, könnten dies als Herausforderung empfinden.
Über die Autorin
Olga Tokarczuk wurde 1962 in Polen geboren und gehört zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart. Ihre Werke beschäftigen sich oft mit den Themen Erinnerung, Identität und der Verflechtung von Mensch und Geschichte. Für ihr literarisches Schaffen wurde sie 2019 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet.