Eine Geschichte über Freundschaft und Vergangenheit Han Kang: Unmöglicher Abschied

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Mit ihrem neuen Roman Unmöglicher Abschied, erschienen am 16. Dezember 2024 im Aufbau Verlag, widmet sich die südkoreanische Literaturnobelpreisträgerin Han Kang einer tief bewegenden Erzählung. Das Buch, übersetzt von Ki-Hyang Lee, beleuchtet die fragile Beziehung zwischen zwei Frauen und verbindet diese mit einem dunklen Kapitel der koreanischen Geschichte. Im Zentrum steht das Massaker von Jeju (1948–1949)*, dessen Spuren bis in die Gegenwart reichen. Han Kang schafft es, die Auswirkungen dieses historischen Traumas behutsam und eindringlich zu schildern, ohne den Leser mit expliziten Darstellungen zu überfordern.

Unmöglicher Abschied, Unmöglicher Abschied, Han Kang Übersetzung: Ki-Hyang Lee, Aufbau Verlag

Ein ungewöhnlicher Auftrag führt zu einer schmerzhaften Reise

Die Handlung beginnt mit einem scheinbar simplen Anliegen: Inseon, die sich nach einem Arbeitsunfall in einem Krankenhaus in Seoul befindet, bittet ihre Freundin Gyeongha, auf die Insel Jeju zu reisen, um sich um ihren kleinen weißen Vogel zu kümmern. Für Gyeongha, die selbst in einer persönlichen Krise steckt, wird diese Aufgabe schnell zu einer Reise, die mehr in Bewegung setzt als nur die Rettung eines Vogels.

Jeju empfängt sie mit einem Schneesturm, der den Weg zu Inseons abgelegenem Haus zu einem Kampf gegen die Naturgewalten macht. Doch hinter den verschneiten Hügeln und der eisigen Kälte warten Geheimnisse, die weit über die Gegenwart hinausgehen. Im Haus stößt Gyeongha auf Spuren von Inseons Familiengeschichte und Dokumente, die das Grauen des Massakers an der Inselbevölkerung aufdecken.

1948 wurden auf Jeju Zehntausende Menschen brutal ermordet, nachdem ein lokaler Aufstand von Militär und Polizei niedergeschlagen wurde. Inseons Mutter überlebte als Kind nur knapp und hat diese schrecklichen Erlebnisse ihr Leben lang verdrängt. Durch ihre Arbeit als Dokumentarfilmerin hat Inseon begonnen, diese verschütteten Erinnerungen aufzudecken, ohne zu ahnen, wie stark die Last der Vergangenheit auch sie selbst prägen würde.

Zwischen persönlicher Bindung und kollektiver Geschichte

Die Beziehung zwischen Gyeongha und Inseon steht im Mittelpunkt der Erzählung und dient als Symbol für die Verbindung zwischen persönlichem Schmerz und kollektivem Gedächtnis. Während Gyeongha als Erzählerin eher im Hintergrund bleibt, tritt Inseons Leben mit all seinen Brüchen und Herausforderungen deutlich in den Vordergrund. Ihre Freundschaft wird von Nähe, Schuld und unausgesprochenem Verständnis geprägt – eine Dynamik, die Han Kang feinfühlig herausarbeitet.

Das Massaker von Jeju ist dabei nicht nur historischer Hintergrund, sondern ein prägender Teil der Handlung. Die Toten und ihr Schweigen sind in jeder Szene spürbar. Dennoch bleibt der Fokus auf den Nachwirkungen: den traumatisierten Überlebenden und den Nachkommen, die versuchen, das Geschehene zu verstehen und einzuordnen.

Die winterliche Landschaft und die Symbolik des weißen Vogels verleihen der Geschichte zusätzliche Tiefe. Der Vogel steht einerseits für das Leben, das bewahrt werden muss, andererseits für die Zerbrechlichkeit und die Bürde, die jede Erinnerung mit sich bringt.

Fragmentierte Erzählstruktur und poetische Sprache

Han Kang bleibt ihrem charakteristischen Stil treu: Unmöglicher Abschied ist in episodischen Fragmenten erzählt, die sich zu einem Mosaik aus Erinnerungen und Erfahrungen zusammensetzen. Diese Struktur entspricht der Natur von Traumata und historischen Ereignissen, die selten linear oder vollständig erfasst werden können.

Die Sprache ist klar und präzise, mit lyrischen Momenten, die den Text durchziehen. Han Kang verlässt sich auf die Kraft des Andeutens und die Wirkung von Leerstellen, wodurch der Leser gefordert wird, eigene Verbindungen herzustellen.

Diese Zurückhaltung hat jedoch auch ihre Schattenseiten: Manche Themen werden nur angedeutet, und die Spannung bleibt stellenweise hinter den Erwartungen zurück. Wiederholungen und eine teils sprunghafte Erzählweise könnten für Leser, die eine geradlinige Handlung bevorzugen, herausfordernd sein.

Ein Roman, der fordert und nachklingt

Unmöglicher Abschied ist kein leicht zugängliches Werk, sondern eine tiefgründige Auseinandersetzung mit Freundschaft, Verlust und der Bedeutung von Erinnerung. Der Roman verlangt Geduld und Aufmerksamkeit, belohnt jedoch mit einer komplexen und eindringlichen Geschichte, die nach dem Lesen noch lange im Gedächtnis bleibt.

Für Leser, die sich auf die fragmentierte Struktur und die leisen Zwischentöne einlassen können, bietet dieses Buch eine intensive literarische Erfahrung. Han Kang gelingt es, eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu schlagen, die nicht nur die Geschichte Koreas, sondern auch universelle Themen wie Schuld und Vergebung anspricht.

Die Autorin: Han Kang

Han Kang, geboren 1970 in Gwangju, Südkorea, zählt zu den bedeutendsten literarischen Stimmen ihres Landes. Bekannt wurde sie international mit dem Roman Die Vegetarierin, der 2016 mit dem Man Booker International Prize ausgezeichnet wurde. Ihr literarisches Werk, das durch eine klare, eindringliche Sprache und die Auseinandersetzung mit Themen wie Trauma, Gewalt und der Zerbrechlichkeit menschlicher Beziehungen geprägt ist, hat ihr 2024 den Nobelpreis für Literatur eingebracht.

Han Kang studierte koreanische Literatur und begann ihre Karriere zunächst als Dichterin, bevor sie sich dem Schreiben von Romanen widmete. Ihre Bücher setzen sich oft mit der jüngeren Geschichte Südkoreas auseinander und verbinden individuelle Schicksale mit kollektiven Erinnerungen.

Neben Die Vegetarierin gehören Menschenwerk, Deine kalten Hände, Weiß und Griechischstunden zu ihren bekanntesten Werken, die ebenfalls im Aufbau Verlag erschienen sind. Mit ihrem neuesten Roman Unmöglicher Abschied führt Han Kang ihre literarische Erforschung von Schmerz und Erinnerung fort und zeigt erneut, wie sie historische Themen in intime, persönliche Geschichten einbindet.

Ihre Werke sind in zahlreiche Sprachen übersetzt und haben eine weltweite Leserschaft gefunden. Mit ihrer außergewöhnlichen Erzählweise und ihrer Fähigkeit, tief in die menschliche Psyche einzudringen, bleibt Han Kang eine unverzichtbare Stimme der zeitgenössischen Literatur.

* Zur Handlung: Das Massaker von Jeju: Eine verschüttete Tragödie

Zwischen 1948 und 1949 ereignete sich auf der südkoreanischen Insel Jeju eine der dunkelsten Episoden in der modernen Geschichte des Landes. Unter dem Vorwurf eines kommunistischen Aufstands durch Fischer und Bauern, der am 3. April 1948 begann, setzte die Regierung brutale Repressionen ein. Dabei wurden über 270 von insgesamt 400 Dörfern zerstört, unzählige Häuser niedergebrannt und Zehntausende Menschen getötet.

Die Opferzahlen schwanken je nach Quelle zwischen 30.000 und 60.000, eine erschreckende Zahl angesichts der damaligen Inselbevölkerung von etwa 300.000 Menschen. Unter den Getöteten befanden sich auch viele Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, die wahllos als vermeintliche Rebellen verfolgt und hingerichtet wurden.

Die Ereignisse wurden über Jahrzehnte hinweg systematisch verschwiegen. Erst in den 1990er Jahren begann eine öffentliche Aufarbeitung der Tragödie. Im Jahr 2003 entschuldigte sich der damalige südkoreanische Präsident Roh Moo-hyun offiziell für die staatlich organisierte Gewalt gegen die Bevölkerung von Jeju.

Heute gilt das Massaker von Jeju als eine der tragischsten und am stärksten verdrängten Episoden der koreanischen Geschichte. Die Ereignisse haben nicht nur tiefe Spuren im kollektiven Gedächtnis der Inselbewohner hinterlassen, sondern auch die kulturelle und gesellschaftliche Identität der Region nachhaltig geprägt.


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