Mit Leben in der Schwebe legt der palästinensische Autor Atef Abu Saif einen eindringlichen Roman vor, der die sozialen, politischen und persönlichen Dimensionen des Lebens im Gazastreifen beleuchtet. Die deutsche Ausgabe erscheint jetzt am 25.01. 2025 im Sujet Verlag und wurde von dem renommierten Übersetzer Dr. Hartmut Fähndrich ins Deutsche übertragen. Abu Saif verwebt die Schicksale einer Familie mit den politischen und gesellschaftlichen Spannungen einer Region, in der der Alltag ständig von Gewalt und Ungewissheit überschattet wird.
Naîm Wardâni: Ein Mann zwischen Erinnerung und Realität
Im Mittelpunkt des Romans steht Naîm Wardâni, ein etwa 60-jähriger Mann, der einen Copy-Shop in einem Flüchtlingslager im Gazastreifen betreibt. Sein Geschäft ist mehr als nur eine Druckerei – es ist ein Ort, an dem die Geschichte der Gemeinschaft festgehalten wird. Naîm fertigt Poster von gefallenen Kämpfern, den sogenannten „Märtyrern“, die in der Öffentlichkeit oft als Helden dargestellt werden. Für ihn sind diese Bilder jedoch weniger ein Symbol des Ruhms als vielmehr ein Zeugnis des endlosen Kreislaufs von Tod und Verlust, der das Leben im Lager prägt.
Naîms Alltag ist von festen Routinen und stiller Melancholie geprägt. Er denkt oft an seine verstorbene Frau Âmina, deren Tod eine Lücke hinterlassen hat, die niemand zu füllen vermag. Seine Kinder, die über die Welt verstreut sind, spiegeln die politische und soziale Zersplitterung seiner Heimat wider. Während der Sohn Salmân in Europa studiert und die Tochter Soha im Ausland ein neues Leben aufgebaut hat, sitzt sein Sohn Sâlim im Gefängnis. Nur die jüngste Tochter Samar lebt noch bei ihm und gibt ihm einen letzten Halt in einer Welt, die zunehmend unübersichtlich wird.
Ein plötzlicher Tod und die Frage nach seiner Bedeutung
Das Leben Naîms nimmt ein abruptes Ende, als er 2011 durch eine Blindgängerexplosion getötet wird. Sein Tod wirkt zunächst zufällig, fast banal, doch er entfacht eine zentrale Debatte im Lager: War Naîm ein Held oder ein Opfer? Diese Diskussion, die zwischen seinem Sohn Salmân und seinem Neffen Nasr ausgetragen wird, zieht sich als Grundthema durch den Roman. Während Salmân seinen Vater als Opfer einer sinnlosen Gewalt betrachtet, sieht Nasr in ihm einen Helden, der Teil eines größeren Widerstands war. Diese Auseinandersetzung verdeutlicht die ideologischen Spannungen innerhalb der Gesellschaft, in der persönliche Verluste oft politisch instrumentalisiert werden.
Konflikte um Macht und Widerstand
Parallel zur Diskussion um Naîms Tod entfaltet sich ein weiterer Konflikt, der die Bewohner des Flüchtlingslagers in eine direkte Konfrontation mit der Verwaltung des Gazastreifens bringt. Der Auslöser ist ein Bauvorhaben auf einem Hügel, auf dem auch Naîms Haus steht. Die geplante Bebauung, die von der lokalen Elite vorangetrieben wird, führt zu heftigen Zusammenstößen zwischen den Bewohnern und den Behörden. Der Roman zeigt eindrucksvoll, wie die Gemeinschaft versucht, sich gegen eine neue Machtclique zu wehren, die ihre Interessen mit religiöser Legitimation und Gewalt durchzusetzen sucht. Die Auseinandersetzungen um den Hügel sind ein Sinnbild für den Kampf um Selbstbestimmung und Würde in einer zunehmend autoritären Gesellschaft.
Leben im Gazastreifen
Heldentum und Opferrolle
Die Frage, ob Naîms Tod heldenhaft oder sinnlos war, stellt die Leser vor eine zentrale Herausforderung: Wie wird in einem Kontext von anhaltender Gewalt und politischem Widerstand die Grenze zwischen Heldentum und Opferrolle gezogen? Der Roman verweigert einfache Antworten und zeigt die Ambivalenz, die beide Perspektiven mit sich bringen.
Familie als Spiegel der Gesellschaft
Die Familie Wardâni, die über verschiedene Länder verstreut ist, steht für die Zersplitterung Palästinas. Die Unmöglichkeit, als Familie vereint zu sein, wird zum Symbol für eine Gesellschaft, die durch politische Grenzen und persönliche Verluste geprägt ist. Gleichzeitig zeigen die unterschiedlichen Wege der Familienmitglieder – vom Studium in Europa bis zur Inhaftierung – die Spannungsfelder zwischen Hoffnung, Anpassung und Widerstand.
Machtstrukturen und Widerstand
Die Konflikte um den Hügel verdeutlichen, wie sich im Gazastreifen neue Machtstrukturen etablieren, die religiöse Legitimation und Gewalt zur Durchsetzung ihrer Interessen nutzen. Der Roman schildert den Widerstand der Bevölkerung als zähen, oft erfolglosen Kampf gegen eine wachsende Elite, die sowohl Mitläufer als auch Widerständler gleichermaßen dominiert.
Erinnerung und Verlust
Naîms Copy-Shop fungiert als Gedächtnis der Gemeinschaft. Die Poster der gefallenen Kämpfer sind sowohl Ausdruck des Gedenkens als auch Symbole eines nicht enden wollenden Konflikts. Gleichzeitig bewahrt Naîm die Erinnerung an seine verstorbene Frau und die zerrüttete Familie, was den inneren Konflikt zwischen persönlichem Schmerz und kollektiver Geschichte widerspiegelt.
Zwischen Introspektion und Gesellschaftsanalyse
Atef Abu Saif nutzt eine ruhige, reflektierende Erzählweise, die den Leser tief in die Gedanken- und Gefühlswelt seiner Figuren eintauchen lässt. Der Alltag der Charaktere wird detailliert geschildert, wodurch die ständige Bedrohung durch Gewalt umso bedrückender wirkt. Der Roman verzichtet auf dramatische Zuspitzungen und setzt stattdessen auf eine subtile Darstellung der Konflikte, die das Leben im Gazastreifen bestimmen.
Durch diese Erzählweise gelingt es Abu Saif, die persönlichen Schicksale seiner Figuren mit den größeren gesellschaftlichen und politischen Dynamiken zu verknüpfen. Das Werk ist sowohl eine intime Familiengeschichte als auch eine schonungslose Analyse der sozialen Realität im Gazastreifen.
Tiefer Blick ins Land
Obwohl der Roman 2014 erstmals erschien, hat er nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Atef Abu Saif beleuchtet mit großer Präzision die Herausforderungen, vor denen die Gesellschaft im Gazastreifen steht. Seine Erzählung eröffnet einen tiefgehenden Blick auf eine Region, die oft nur aus der Perspektive des äußeren Beobachters betrachtet wird. Mit der deutschen Übersetzung durch Hartmut Fähndrich wird dieses vielschichtige Werk nun einem breiteren Publikum zugänglich gemacht.
Der Autor
Atef Abu Saif, 1973 im Flüchtlingslager Jabaliya geboren, ist Schriftsteller, Politikwissenschaftler und ehemaliger palästinensischer Kulturminister (2019–2024). Zu seinem Werk gehören Romane, Kurzgeschichten, Theaterstücke und politische Sachbücher. Seine Tagebücher während des israelischen Angriffs auf Gaza (Frühstück mit der Drohne) brachten ihm internationale Anerkennung ein. Mit Leben in der Schwebe schafft Abu Saif eine Erzählung, die gleichermaßen literarisch anspruchsvoll und politisch relevant ist.
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