Mit einem kleinen, aber prägnanten Vorwort aus Goethes Faust II stimmt Peter Sloterdijk seine Leser auf das ein, was sie erwartet:
Peter Sloterdijk: Der Kontinent ohne Eigenschaften Lesezeichen im Buch Euro
"Phorkyas:
„Habt ihr Geduld, des Vortrags langgedehnten Zug
Still anzuhören? Mancherlei Geschichten sind’s.“
Chor:
„Geduld genug! Zuhörend leben wir indes.“"
Diese Zeilen beschreiben treffend die Struktur und den Stil des Buches. Der Kontinent ohne Eigenschaften ist ein sprachgewaltiges Werk, das von scharfen Analysen, literarischen Verweisen und historischen Geschichten durchzogen ist. Sloterdijk lädt seine Leser ein, sich mit Geduld und Aufmerksamkeit auf eine gedankliche Reise durch Europas Geschichte, Selbstverständnis und mögliche Zukunft einzulassen. Erschienen ist das Werk bei Suhrkamp im November 2024.
Europas Erbe: Metamorphosen des Imperiums
Sloterdijk eröffnet sein Werk mit einer zentralen These: Europa sei ohne die Geschichte des Römischen Imperiums nicht zu verstehen. Dieses Imperium, so der Philosoph, sei im Kern nicht untergegangen, sondern habe einen „Gestaltwandel“ erfahren. Seine imperative Funktion – die Fähigkeit, Strukturen und Ordnungen zu schaffen – sei bis in die Moderne erhalten geblieben.
Von den Nationalstaaten über die Aufklärung bis hin zur Europäischen Union zieht Sloterdijk eine Linie der Kontinuität. Um Europa zu verstehen, müsse man die Metamorphosen dieses Gebildes nachvollziehen, das stets zwischen Einheit und Vielfalt, zwischen Dominanz und Rückzug balanciert habe. (Leseprobe)
Das Museum Europa
In der Gegenwart beschreibt Sloterdijk Europa als einen Kontinent, der sich von imperialen Machtansprüchen verabschiedet hat. Die Europäische Union ist für ihn ein „monströser Großkörper“, ein politisches Experiment mit 27 Organen, das keine imperiale Haltung mehr zeigt. Stattdessen sei Europa heute eher ein „Museum“: ein Ort, an dem die Errungenschaften und Konflikte der Vergangenheit betrachtet werden können, ohne dass sie in direktem Kontakt zur Gegenwart stehen.
Diese museale Position bietet Europa die Möglichkeit, seine Werte und Traditionen zu bewahren. Doch sie birgt auch die Gefahr einer Lähmung, in der der Kontinent sich aus der globalen Machtordnung zurückzieht, während andere Akteure, wie autoritäre Staaten, an Einfluss gewinnen.
Schöpferische Energien versus Ressentiments
Sloterdijk beschreibt zwei zentrale Kräfte, die Europa heute prägen: schöpferische Leidenschaften und Ressentiments. Während die schöpferischen Energien Europas immer wieder kulturelle, wissenschaftliche und gesellschaftliche Innovationen hervorgebracht haben, blockieren Ressentiments – geprägt von Nostalgien, Schuldzuweisungen und nationalistischen Tendenzen – oft den Fortschritt.
„Das aufgeklärte Europa ist so lange am Leben, wie die schöpferischen Leidenschaften die des Ressentiments in Schach halten,“ schreibt Sloterdijk. Diese schöpferischen Energien sind für ihn der Schlüssel, um Europas Zukunft zu gestalten und den Kontinent wieder zu einer aktiven gestaltenden Kraft zu machen.
Selbstkritik als Stärke und Risiko
Europa ist ein Kontinent der Selbstkritik – eine Eigenschaft, die Sloterdijk als einzigartig beschreibt. Diese Fähigkeit zur Reflexion und Hinterfragung sei einer der Gründe, warum Europa in der Vergangenheit immer wieder aus Krisen hervorgehen konnte. Doch diese Stärke könne auch in eine Schwäche umschlagen: Eine ausufernde Selbstkritik, die sich nur noch auf historische Schuld und Unzulänglichkeiten konzentriert, könne Europa marginalisieren und handlungsunfähig machen.
Sloterdijk fordert daher eine Balance zwischen Selbstkritik und Selbstbewusstsein. Europa müsse sich seiner Vergangenheit stellen, ohne seine Errungenschaften und Potenziale aus den Augen zu verlieren.
Ein Genuss an Sprachkraft und Geschichten
Sloterdijks Werk ist kein Leitfaden mit klaren Handlungsvorgaben, sondern eine Einladung zur Auseinandersetzung. Mit sprachlicher Präzision und einem scharfen Blick liefert er eine Fülle von Geschichten, Zitaten und Analysen, die zum Nachdenken anregen. Es ist ein Genuss, sich auf diesen „langgedehnten Zug des Vortrags“ einzulassen, der den Leser von den Ursprüngen Europas bis in seine ungewisse Zukunft führt.
Schlussgedanke: Europas Weg bleibt offen
Der Kontinent ohne Eigenschaften ist ein Werk, das keine einfachen Antworten liefert, sondern den Leser dazu auffordert, sich mit den offenen Fragen Europas auseinanderzusetzen. Sloterdijk beschreibt einen Kontinent, der zwischen seinen Widersprüchen und Möglichkeiten schwankt – und genau darin seine Stärke finden könnte. Es ist ein Buch, das Geschichten erzählt, Denkprozesse anregt und die Leser dazu einlädt, Europa nicht als abgeschlossenes Projekt, sondern als offene Herausforderung zu betrachten.