Claudia Dvoracek-Iby: FREIGÄNGERIN

Vorlesen

Als ich frühmorgens wütend – wütend auf dich! - durch den Parkeingang jogge, registriere ich sie bereits, diese alte Frau, die konzentriert ein am geöffneten Tor angeklebtes Plakat betrachtet, und die ich eine gute Stunde später, nach meinen Park-Lauf-Runden, in der exakt selben Haltung dem Tor zugewandt vorfinde.

Erschöpft, da mich die quälenden Gedanken an dich in ein viel zu schnelles Lauftempo getrieben haben, bleibe ich neben ihr stehen. Das Plakat, welches die Frau so eingehend studiert, entpuppt sich als A4-Blatt, auf dem ein verblichenes Foto einer Katze zu erkennen ist. Darunter lese ich: Vermisst! Freigängerin, zutraulich -

Die weitere Wortfolge ist verschmiert, nicht mehr zu entziffern.

„Oje, das ist wohl Ihre Katze“, sage ich, weil ich freundlich sein will, und auch, um mich von deiner Präsenz in meinem Denken abzulenken.

Langsam wendet die Alte sich mir zu, sieht mich aus hellblauen Augen an. Unergründlicher Ausdruck. Ich deute diesen und ihr Schweigen als Zustimmung.

„Hoffentlich wird sie gefunden“, sage ich höflich.

Die Frau sieht mich weiterhin stumm an. Die Leere in ihrem Blick rührt etwas in mir an.

„Sie lieben sie wohl sehr.“ Ich räuspere mich und denke an dich, wie unsagbar gut es sich anfühlt, wenn du mich berührst, mich umarmst.

„Pah, lieben! Was heißt da lieben!“, reagiert die Frau nun unerwartet laut und heftig. „Gehört mir ja! Ist ja ein Teil von mir! Früher, ja, früher, da konnte ich mich immer verlassen. Immer! Aber jetzt …“ Sie schüttelt den Kopf.

„Na ja, eben eine Freigängerin“, konstatiere ich bitter und denke an dich, wie du vor wenigen Stunden - um 04:27 Uhr!! - von einer ‘Firmenfeier‘ heimgekommen bist. Angeheitert. Und völlig frei von Schuldgefühlen.

„Freigängerin, Freigängerin“, murmelt die Frau. Klagt: „Ein wildes Tier ist es geworden! Hab‘s nicht mehr unter Kon -, nicht mehr unter Kon -, Kon -“

„Unter Kontrolle, meinen Sie“, sage ich und denke an dich, wie du mich angeschrien hast: „Nicht mit mir! Das hättest du gerne, mich unter deiner Kontrolle -- “

„Hab‘s nicht mehr unter Kontrolle! Ein wildes Tier ist es geworden!“, jammert die Frau.

„Aber man kann sie ja nicht einsperren!“ rufe ich, plötzlich wieder wütend werdend.

„Aber man kann sie ja nicht einsperren“, wiederholt die Frau.

„Ich verrate dir etwas“, flüstert sie, „eine Zeitlang habe ich sie eingesperrt. Aber das darfst du nie – nie – nie tun. Da wird es nämlich böse - das wilde Tier - böse und schrecklich hungrig - es frisst alle auf - alle Gedanken - Löcher frisst es - da drinnen.“

Sie klopft mehrmals auf ihren Kopf.

„Äh, was meinen Sie?!“

„Na was wohl? Was fragst du so dumm!“, schimpft sie. Lacht im nächsten Moment triumphierend auf: „Aber das, was ich ausspreche, kann es nicht fressen! Das, was ich ausspreche, ist viel schneller, das erwischt es nicht!“

„Und du!“, schaut sie mich nun streng an. „Sei ja nicht böse, du! Sperre sie nie ein!“

Ich fühle mich unbehaglich. Fühle mich ertappt, durchschaut.

„Sprich deine Wörter immer aus, sonst frisst du …“

„Mama! Ach!“ Eine Frau mittleren Alters eilt auf uns zu, wirkt erleichtert. „Hier bist du also wieder!“

Abrupt schließt die Alte Mund und Augen.

Ihre offensichtliche Tochter nickt mir grüßend zu, sagt leise seufzend: „Sie ist dement. Es wird immer schlimmer. Zum dritten Mal finde ich sie anstatt zuhause in aller Herrgottsfrühe hier vor diesem Foto.“

„Es ist nicht ihre Katze?“

„Nein, nein. - Komm, Mama, gehen wir heim.“

Die Frau lässt sich, Mund und Augen nach wie vor fest zusammengekniffen, von ihrer Tochter unterhaken und langsam den Gehsteig entlangführen.

Später, auf dem Nachhauseweg, suche ich nach passenden Worten, verwerfe sie wieder, suche andere, bessere, suche die richtigen Worte für dich.

Und dann. - Dann sehe ich von weitem, wie du Taschen, Kisten, Gegenstände im Kofferraum und auf der Rückbank deines Autos verstaust. So schnell ich kann, laufe ich zu dir, doch da sitzt du bereits, die Tür verschlossen, am Fahrersitz, zischt drohend durch das halbgeöffnete Fenster:

„Sag ja kein Wort! Das war‘s mit uns. Aus. Endgültig. Du kannst froh sein, dass ich dich nicht anzeige!“

„Wie bitte? - Wie meinst du das?!“

„Sehr praktisch, deine ‘Demenz‘, die immer dann auftaucht, wenn sie dir gelegen kommt“, sagst du verächtlich. Während du losfährst, nimmst du die Sonnenbrille ab. Dein linkes Auge ist zugeschwollen, die Haut um das Auge blaurot bis zum Jochbein.

Ich bin allein. Ungesagte Worte brüllen in mir.

‚Sperre sie nie ein‘, höre ich die alte Frau sagen, ‚sprich sie immer aus.‘

„Komm zurück! Sofort!! Komm auf der Stelle zurück!“, schreie ich ins Leere.

Gefällt mir
6
 

Weitere Freie Texte

Freie Texte

Fiona: Hoffnung

FIONA

Die Hoffnung klopft, so zaghaft sacht, doch bricht sie jedes Mal bei Nacht. Auch wenn sie den tag über nur lacht Hält sie der gedanke trotzdem die ganze Nacht wach Es wird bestimmt klappen Und ich kann es auch schaffen Und ich werde mich auch trauen, ... doch ... ich könnte es auch versauen Die Hoffnung, einst so zart und klein, ertrank in Tränen, kalt und rein. Sie fragt nicht mehr, warum, wofür, denn jede Antwort schweigt in ihr. Hoffnung nur ein positives Gefühl Sie glaubte daran doch dass ...
lesering
Freie Texte

Die Sehnsucht. Pindars Ode

Paweł Markiewicz

Du wie die Träumerei geboren von dionysischen Oden wie zarter Tag in deinem Wind – verzaubertem Schmetterling so wie das Goldene Vlies – zauberisch in der anmutigen Phantasie graziöses Paradies verloren ist doch gefunden und so schwärmerisch Du lotos-zärtlicher Tagfalter du – über den Vulkanen mit sanfter Flügel-Verzaubertheit verewigt in den Zeiten Ich möchte sein wie Du und ewige dankende Augen ein Heer der Gefühle scheint in fernen Mythen Ländern Ich wäre linder und unendlich wunderbar wie ...
lesering
Freie Texte

Irena Habalik: Hinter den geschlossenen Türen

Irena Habalik

werden die Gabeln poliert für die nächste Zugabe wird Posaune geübt für das Jüngste Gericht zu große Brust flach gelegt und geschmeckt zu kleiner Kopf in den Topf gesteckt wird laut diskutiert über die Abwesenheit der Milch wird geklagt über das Nachlassen der Schwerkraft Hinter den geschlossenen Türen wird die Liebe kalt begossen werden die Messer gewetzt, in die Tasche gesteckt die Unwahrheiten serviert zu den Mahlzeiten wird Brecht zitiert und Benn applaudiert das Perverse wird hier probiert ...
Freie Texte Freie Texte lesering
Freie Texte

Maxima Markl: Zeit

Maxima Markl

Ich schaue auf die Uhr vor, nach und während einer Tat die Zeit vergeht wenn ich nicht hinschaue Das Ticken einer Uhr ein Herzschlag Bist du tot, bleibt die Zeit für dich stehen Du veränderst dich nicht Bleibst gleich Bis die Zeit alle geholt hat Die sich an dich erinnerten Und die Uhr tickt weiter Früher gab es keine Uhr Keine Zeit Die Tage verschmolzen ineinander Aber es gab auch keine Tage Nur hell und dunkel War die Zeit dazwischen Sie floss wild Ungebändigt Und doch so stetig Bis man ihr ...
Freie Texte Freie Texte lesering
Freie Texte

Gabriele Ejupi: Die Last

Gabriele Ejupi

Der Schnee lastet schwer auf den Zweigen. Sie senken sich unter dem Druck, geben nach, verlieren ihren Widerstand. So lastet auch die Bürde des Lebens auf unseren Schultern, und auch wir geben nach, gehen nicht mehr so aufrecht wie einst. Wir versuchen, einiges abzuschütteln, die Last zu vermindern, sie in eine weit entfernte Ecke zu schieben. War es wirklich wichtig? Nicht alles verdient es, bis ans Ende unserer Tage getragen zu werden. Erinnerungen verblassen, und mit ihnen wird die Last ...
Freie Texte Freie Texte lesering
Freie Texte

Martin Neuhold:Lautlos

Martin Neuhold

Andere zerbrechen laut, und die Welt hält inne, reicht Hände, flüstert Trost. Ich zerbreche nach innen, schichtweise, lautlos, wie Holz, das von innen fault, bis nur noch die Hülle bleibt – aufrecht, unauffällig, brauchbar. Manchmal wünsche ich mir, zu schreien, zu explodieren, sichtbar zu sein im Splittern und Bersten. Aber ich bleibe still, wie immer, und funktioniere weiter, während mein Herz im Verborgenen zu Staub zerfällt.

Aktuelles