Mit mehr als 6.000 Unterzeichnern hat der Boykottaufruf des Palestine Festival of Literature (PalFest) eine Bewegung ausgelöst, die sowohl Zustimmung als auch scharfe Kritik erfahren hat. Autoren, Verleger und Kulturschaffende weltweit haben sich diesem Aufruf angeschlossen, um gegen das zu protestieren, was sie als „überwältigende Unterdrückung der Palästinenser“ bezeichnen. Der Aufruf erhebt schwere Vorwürfe: Apartheid, ethnische Säuberung und Völkermord. Doch während dieser Boykott als moralisches Statement dient, wirft er auch grundlegende Fragen über die Rolle von Kunst, Literatur und kulturellem Dialog auf.
Ein Balanceakt zwischen Moral und Dialog: Boykottaufruf des Palestine Festival of Literature
Stimmen der Empörung
Der offene Brief, den PalFest veröffentlicht hat, beginnt mit einer unmissverständlichen Botschaft: „Es lässt sich nicht leugnen, dass die Palästinenser einer überwältigenden Ungerechtigkeit ausgesetzt sind.“ Er beschreibt die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen als Ergebnis jahrzehntelanger Unterdrückung. Die Verfasser werfen der israelischen Regierung vor, eine Politik zu verfolgen, die die physische und kulturelle Existenz der Palästinenser systematisch zerstöre. Israelische Regierungsvertreter, so der Brief, hätten „offen über ihre Beweggründe gesprochen, die Bevölkerung des Gazastreifens zu eliminieren, um einen palästinensischen Staat unmöglich zu machen“.
Doch die Kritik beschränkt sich nicht allein auf Israel. Der Brief hebt hervor, dass auch westliche Staaten durch ihre politische und militärische Unterstützung mitschuldig seien. Insbesondere die USA, Großbritannien und Deutschland hätten jahrzehntelang eine Politik ermöglicht, die die Besatzung aufrechterhält. „Die westlichen Kulturinstitutionen haben eine wichtige Rolle bei der Normalisierung dieses Unrechts gespielt“, heißt es.
Der moralische Kern des Boykotts
Die Unterzeichner verpflichten sich, nicht mit israelischen Kultureinrichtungen zusammenzuarbeiten, die direkt oder indirekt an der Unterdrückung der Palästinenser beteiligt sind. Die Bedingungen des Boykotts sind klar formuliert:
- Keine Zusammenarbeit mit Institutionen, die diskriminierende Richtlinien unterstützen oder Israels Politik rechtfertigen.
- Keine Kooperation mit Organisationen, die die Rechte der Palästinenser, wie sie im Völkerrecht verankert sind, nicht anerkennen.
Für viele der Unterstützer, darunter prominente Namen wie Annie Ernaux, Sally Rooney und Abdulrazak Gurnah, ist der Boykott ein notwendiges moralisches Statement. Sie sehen darin eine Möglichkeit, globale Aufmerksamkeit auf die Lage der Palästinenser zu lenken und den Druck auf israelische Institutionen zu erhöhen.
Die Tragik des Boykotts: Verlust des Dialogs
Doch so gerechtfertigt die moralische Empörung erscheinen mag, der Boykott wirft auch ein grundlegendes Dilemma auf: Er könnte den Raum für kulturellen Dialog und gegenseitiges Verständnis einschränken. Autoren wie Zeruya Shalev und Assaf Gavron, die innerhalb Israels gegen die Besatzungspolitik auftreten, könnten durch den Boykott isoliert werden. Ihre Werke, die oft als Brücke zwischen israelischen und internationalen Diskursen dienen, könnten an Einfluss verlieren. Aber gerade diese Stimmen, die für Veränderung von innen stehen, werden so dringend gebraucht um keine weiteren Echokammern zu errichten.
Der Boykott sorgt für die Vertiefung bestehender Gräben zwischen den Konfliktparteien. In einer zunehmend polarisierten Welt, in der soziale Medien oft einseitige Narrative verstärken, droht der Diskurs auf einfache Gegensätze reduziert zu werden.
Selbst für die Unterzeichner birgt der Boykott Risiken. Ihre Absicht, Solidarität zu zeigen, wird von Kritikern als Angriff interpretiert werden. Dies könnte den Diskurs weiter vergiften und die eigentlichen Anliegen in den Hintergrund drängen.
Repressionen gegen pro-palästinensische Stimmen
Der offene Brief verweist auch auf weitreichende Repressionen gegen pro-palästinensische Stimmen, die sowohl in Israel als auch international spürbar sind. Beispiele wie die Ausladung der Autorin Adania Shibli von der Frankfurter Buchmesse oder die Hetzkampagnen gegen Schauspielerinnen wie Melissa Barrera verdeutlichen, wie pro-palästinensische Positionen unterdrückt werden. Pro-palästinensische Lehrkräfte und Studierende werden zunehmend schikaniert. Dies zeigt, wie tief der Konflikt in akademische Räume eingreift.Viele westliche Kulturorganisationen sehen sich der Kritik ausgesetzt, keine klare Haltung einzunehmen oder pro-zionistische Narrative zu fördern.Diese Repressionen verdeutlichen, wie stark die Kontrolle über den kulturellen und intellektuellen Raum in politisierten Kontexten ist.
Die Rolle von Literatur und Kultur in Krisenzeiten
Ein zentraler Kritikpunkt am Boykott ist die Gefahr, dass Literatur als Plattform der Reflexion verloren gehen könnte. Literatur hat die Aufgabe, Fragen zu stellen, Widersprüche auszuhalten und Räume für gegenseitiges Verstehen zu schaffen. Wenn sie jedoch als politisches Werkzeug instrumentalisiert wird, verliert sie diese Funktion.
Literatur kann helfen, die Komplexität von Konflikten darzustellen und unterschiedliche Perspektiven zu integrieren. Doch ein Boykott schränkt diesen Raum enorm ein. Kritische Stimmen aus Israels werden somit ebenso ausgeschlossen wie Palästinenser, deren Werke durch den Boykott nicht mehr in israelischen Verlagen erscheinen.
Indem israelische Kultureinrichtungen pauschal boykottiert werden, wird der Dialog und die Möglichkeit erschwert, eine gemeinsame Lösungen zu finden.
Symbolischer Akt oder Hindernis für den Dialog?
Der Boykottaufruf gegen israelische Kulturinstitutionen zeigt die tiefgreifenden Spannungen zwischen moralischem Aktivismus und der Notwendigkeit des Dialogs. Während er ein klares Zeichen gegen Ungerechtigkeit setzt, riskiert er, Räume für kulturellen Austausch zu schließen.
Kunst und Literatur sollten jedoch Plattformen des Dialogs bleiben – insbesondere in konfliktreichen Zeiten. Der Schlüssel liegt darin, die Ambivalenzen auszuhalten und den Austausch trotz aller Spannungen aufrechtzuerhalten. Nur so können Kunst und Literatur ihre Aufgabe erfüllen, Brücken zu bauen und die Komplexität von Konflikten sichtbar zu machen.
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