Robert Harris gelingt es in seinem Politthriller Abgrund, die wahre und skandalträchtige Affäre des britischen Premierministers H.H. Asquith und der jungen Aristokratin Venetia Stanley in einen fesselnden Roman zu übersetzen. Harris baut auf erhaltenen Briefen auf, in denen Asquith seiner Geliebten nicht nur seine Zuneigung, sondern auch hochsensible Informationen über die britische Kriegsstrategie vor dem Ersten Weltkrieg anvertraut. Mit einer Mischung aus historischen Fakten und dichterischer Freiheit gestaltet Harris eine packende Erzählung, die die Schattenseiten politischer Macht und die Gefahr persönlicher Verfehlungen anschaulich macht.
Abgrund wurde am 6. November 2024 in der deutschen Übersetzung von Wolfgang Müller im Heyne Verlag veröffentlicht und umfasst über 500 Seiten. In seinem unverwechselbaren Stil erweckt Harris den politischen und gesellschaftlichen Kontext der Zeit authentisch zum Leben. Ähnlich wie die Serie Downton Abbey nutzt Harris das Umfeld der britischen Oberschicht, um eine Geschichte zu erzählen, die intime und globale Tragweite miteinander verwebt.
Ein gefährliches Spiel zwischen Politik und Leidenschaft
Abgrund setzt im Jahr 1914 ein, als Europa vor dem Ersten Weltkrieg steht. Premierminister Asquith ist 62 Jahre alt und in eine leidenschaftliche Beziehung mit der 27-jährigen Venetia Stanley, einer Frau aus gutem Hause, verstrickt. In den Augen des Premierministers verkörpert Venetia eine Zuflucht inmitten der politischen Belastungen seiner Zeit. Doch diese Affäre bringt ihn in eine gefährliche Lage: In Hunderten von Briefen schreibt er Venetia nicht nur seine Liebe, sondern offenbart auch geheime Details über die britische Kriegsführung.
Die Unvorsichtigkeit, mit der Asquith politische Geheimnisse preisgibt, bleibt nicht unbemerkt. Der britische Geheimdienst schickt den jungen Agenten Paul Deemer, um die ungesicherte Weitergabe geheimer Informationen zu untersuchen. Die fiktive Figur Deemer bringt einen zusätzlichen Spannungsbogen in die Geschichte und sorgt dafür, dass sich Abgrund zunehmend zu einem Thriller entwickelt. Es entsteht ein intensives Dreiecksverhältnis zwischen dem Premierminister, seiner Geliebten und dem Geheimdienstagenten, das Venetia zunehmend in Loyalitätskonflikte und die Frage nach ihrer persönlichen Freiheit drängt. Harris beleuchtet die Ambivalenzen dieser Figuren und macht so die persönlichen Konflikte und die Spannungen im politischen Umfeld greifbar.
Historische Genauigkeit trifft auf fiktionale Spannung
Robert Harris gelingt es in Abgrund, historische Authentizität mit einer dramatischen Handlung zu verbinden. Durch den geschickten Einsatz realer Briefe und Ereignisse wird die Affäre zwischen Asquith und Venetia plastisch und nachvollziehbar dargestellt. Der Roman entwickelt eine packende Mischung aus historischem Tatsachenbericht und fiktionaler Freiheit, die den Leser tief in die politischen Intrigen und persönlichen Verfehlungen der damaligen Zeit hineinzieht.
Besonders beeindruckend ist, wie Harris das komplexe Zusammenspiel von persönlichen Leidenschaften und politischer Verantwortung behandelt, ohne das Buch mit überflüssigen Details zu überladen. Die Figurenzeichnung ist eine der großen Stärken des Romans: Asquith wird nicht nur als Staatsmann, sondern als Mensch dargestellt, der von seinen eigenen Schwächen und Begierden getrieben wird. Venetia Stanley erscheint als eine ambivalente, vielschichtige Figur, die trotz ihrer gesellschaftlichen Stellung zwischen ihrer eigenen Autonomie und den Erwartungen ihrer Zeit zu navigieren versucht.
Durch die fiktionale Ergänzung des Geheimdienstagenten Deemer gewinnt der Roman zusätzliche Tiefe. Deemer verkörpert die Bedrohung, die Asquiths und Venetias Beziehung durch die politische Realität erfährt, und bringt eine Perspektive in die Geschichte, die die Spannung aufrecht erhält. Dabei hinterfragt Harris die Funktionsweise des britischen Geheimdienstes und stellt Deemers Rolle als Spiegel der politischen Machenschaften und moralischen Dilemmata dar.
Der Vergleich mit Downton Abbey liegt nahe, da Harris ebenfalls die gesellschaftlichen und politischen Schichten der Epoche lebendig werden lässt. Die Beziehung zwischen Macht und privatem Leben wird mit einer kritischen Note erzählt und stellt Fragen zur Verantwortung politischer Führungspersonen und den möglichen Konsequenzen ihrer Fehlentscheidungen.
Ein Eintauchen in das England der 1910er Jahre
Die deutsche Übersetzung von Wolfgang Müller bringt die Sprache und den Erzählton des Originals präzise zur Geltung, wodurch die dichte Atmosphäre des Romans gut transportiert wird. Harris erschafft in Abgrund eine immersive Welt, die den Leser mitten ins England der 1910er Jahre versetzt. Die detaillierte Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse und Schauplätze ermöglicht einen intensiven Zugang zur Zeit und den Gepflogenheiten der damaligen britischen Elite. Diese Welt ist geprägt von strikten Konventionen, gesellschaftlichen Erwartungen und einem starken Klassenbewusstsein, die im Kontrast zu den persönlichen Leidenschaften und moralischen Abgründen der Protagonisten stehen.
Dabei legt Harris ein besonderes Augenmerk auf die Psychologie seiner Figuren. Asquiths zunehmende Abhängigkeit von Venetia und sein innerer Zwiespalt zwischen politischer Verantwortung und persönlicher Leidenschaft machen ihn zu einer spannenden Figur, deren Handeln der Leser nachvollziehen kann. Venetia steht als Vertreterin der Frauen ihrer Zeit, die nach mehr Selbstbestimmung streben, und verkörpert den Bruch mit gesellschaftlichen Normen.
Auch die Nebenfiguren, wie Winston Churchill, der als Erster Lord der Admiralität eine aktive Rolle in der Kriegspolitik spielt, tragen zur Authentizität der Geschichte bei. Harris zeichnet ein Bild von Churchill als aufstrebendem Politiker, der in seiner unnachgiebigen Haltung exemplarisch für die Spannungen und politischen Fronten der Zeit steht.
Abgrund als facettenreiche Erzählung über Macht und menschliche Schwächen
Abgrund ist weit mehr als ein einfacher Politthriller – Robert Harris bringt die persönliche Seite der Macht und die Schwächen politischer Führungsfiguren ans Licht. Die Verknüpfung realer historischer Ereignisse mit fiktionalen Elementen macht das Buch sowohl spannend als auch informativ. Die Balance zwischen Historie und Fiktion sorgt dafür, dass der Roman packend bleibt und dabei Einblicke in die Dynamiken der politischen Elite und deren Einfluss auf die Weltpolitik liefert.
Harris zeigt in Abgrund, wie persönliche Leidenschaften und Schwächen politische Entscheidungen beeinflussen und bisweilen gefährden können. Er wirft damit nicht nur einen kritischen Blick auf die Machtstrukturen der Zeit, sondern auch auf die Grenzen der Verantwortung und die moralischen Grauzonen, in denen sich führende Persönlichkeiten bewegen. Damit gelingt es ihm, eine Geschichte zu erzählen, die auch im 21. Jahrhundert noch Fragen zur Rolle der Politik und den privaten Verfehlungen ihrer Vertreter aufwirft.
Wer sich für historische Romane mit einer Spannungsebene interessiert, die die Grenzen zwischen privatem Leben und öffentlichem Amt untersucht, wird mit Abgrund einen außergewöhnlichen Einblick in die britische Geschichte und die Schattenseiten der politischen Macht finden.
Über den Autor
Robert Harris, geboren 1957, ist ein britischer Schriftsteller und ehemaliger Journalist, der für seine detailliert recherchierten historischen Romane und Politthriller bekannt ist. Zu seinen bekanntesten Werken zählen Vaterland, Enigma und die Cicero-Trilogie. Harris studierte an der Universität Cambridge und arbeitete zunächst als Journalist, bevor er sich dem Schreiben widmete. Viele seiner Werke wurden erfolgreich verfilmt, was zeigt, dass Harris ein Gespür für filmreife Stoffe besitzt. Seine Romane behandeln oft den Einfluss von Macht, die Rolle der Medien und die moralischen Herausforderungen in der Politik. Mit Abgrund bestätigt er seine Fähigkeit, historische Stoffe spannend und facettenreich aufzubereiten.