Am 3. November 2024 wurde Saša Stanišić für sein neues Werk „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ in Braunschweig mit dem renommierten Wilhelm Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet. Die Ehrung, die zu den wichtigsten Literaturpreisen des deutschsprachigen Raums zählt und mit 30.000 Euro dotiert ist, würdigte Stanišićs einzigartige Erzählweise und die Vielfalt seines literarischen Schaffens. Die Jury hob dabei besonders seine „Präzision im beobachteten Detail“ hervor sowie die Fähigkeit, verschiedenste Milieus und literarische Referenzen gekonnt zu verweben. Die Stadt Braunschweig und der Deutschlandfunk verleihen den Preis jährlich an ein erzählerisches Werk, das im jeweiligen Vergabejahr erschienen sein muss und als bedeutender Beitrag zur Gegenwartsliteratur anerkannt wird.
Ein Titel, der neugierig macht
Schon der Titel "Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne" gibt ein Rätsel auf. Er wirkt geheimnisvoll und verrät doch wenig darüber, was für eine Geschichte oder Erzählweise sich hinter dem Buch verbirgt. Saša Stanišić nimmt uns hier mit auf eine literarische Reise, die keine klare Linie verfolgt, sondern aus Gedankenexperimenten, Erinnerungen und humorvollen Episoden besteht. Das Buch stellt die Frage, was das Wesentliche im Leben ist und was es bedeutet, Entscheidungen zu treffen – oder sie offenzulassen. Erschienen ist das Buch bei Luchterhand am 30.05.2024.
Ein Kaleidoskop aus Szenen und Lebenswegen
Das Buch ist keine durchgehende Geschichte, sondern vielmehr ein Mosaik aus Szenen, Erinnerungen und Momenten. Die episodische Struktur und die verschiedenen Figuren – der Vater, der bei Memory immer gegen seinen Sohn verliert und nach einem Ausweg sucht, die Witwe, die versucht, über die Symbolik der Gießkanne eine neue Perspektive zu finden, oder die Freunde, die auf Helgoland durch Erinnerungen und alternative Möglichkeiten wandeln – formen sich zu einem faszinierenden Ganzen. Stanišić verwebt diese Geschichten zu einem Kaleidoskop von Möglichkeiten, das anstelle klarer Antworten einen Raum für Reflexion öffnet und das Leben als ein Geflecht von Entscheidungen und Zufällen zeigt.
In den Dialogen und inneren Monologen der Figuren finden sich humorvolle, teils skurrile Momente, die das Buch trotz seines philosophischen Hintergrunds leichtfüßig wirken lassen. In einem Wechsel aus Perspektiven und Stimmungen eröffnet Stanišić dem Leser eine Bühne, auf der er die Entscheidungen der Figuren miterleben kann. Besonders markant ist der spielerische Umgang mit Alltäglichkeiten, die im Angesicht großer Lebensfragen zu Wegweisern werden: Soll die Witwe auf dem Friedhof auf Gespräche eingehen, indem sie die Gießkanne sichtbar platziert? Oder bleibt sie lieber ungestört und in Gedanken?
Ein Wechselspiel aus Humor und Ernst
In "Möchte die Witwe angesprochen werden..." gelingt Stanišić die Balance zwischen Leichtigkeit und Tiefe. Die Art, wie er humorvolle und ernste Momente miteinander verbindet, zeigt sich besonders eindrucksvoll im Hörbuch, das vom Autor selbst gelesen wird. Sein Humor ist oft leise und hintergründig, die Töne humorvoll und augenzwinkernd – und doch stellt das Buch große Fragen: Wie anders hätte das Leben verlaufen können, wenn man an bestimmten Punkten andere Entscheidungen getroffen hätte? Wie könnte das Leben aussehen, wenn man die Wahl hätte, es anders zu gestalten? In diesen Überlegungen entdecken die Figuren neue Wege und finden ungewöhnliche Antworten auf ihre Fragen – ohne dass die Erzählung dabei je an Leichtigkeit verliert.
Welches Leben würdest du wählen?
Eine zentrale Idee des Buches ist es, den Leser und Hörer in Gedanken verschiedene Lebensmöglichkeiten ausprobieren zu lassen. Wenn man einen kurzen Blick auf sein Leben werfen könnte, auf die alternativen Wege und Entscheidungen, die einem offenstanden und die man vielleicht nie eingeschlagen hat – wie würde man wählen? Stanišić nimmt uns in Welten mit, in denen diese Entscheidungen auf einmal greifbar erscheinen. Seine Figuren wagen es, neue, oft ungewöhnliche Wege zu gehen und Dinge zu tun, die sie insgeheim befürchten, oder sie sagen eine kleine Notlüge, um eine andere Realität zu erleben.
So entstehen viele kleine Szenen, die sich in unerwartete Richtungen entwickeln: Eine Reinigungskraft mit einer Ziegenhaarbürste in der Hand beschließt, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Ein Justiziar geht ungewöhnliche Wege und ist bereit, seine Grenzen zu überschreiten, um endlich im Memory gegen seinen achtjährigen Sohn zu gewinnen. Der Erzähler selbst, ein deutsch-bosnischer Schriftsteller, reist nach Helgoland und spürt dort die merkwürdige Gewissheit, dass er schon einmal dort war – oder vielleicht doch nicht.
Die Jury und die Bedeutung des Wilhelm Raabe-Literaturpreises
Die Jury des Wilhelm Raabe-Literaturpreises bestand in diesem Jahr aus renommierten Literaturkritikern und Wissenschaftlern, darunter Prof. Dr. h.c. Gerd Biegel, Dr. Hanna Engelmeier, Thomas Geiger, Samuel Hamen, Prof. Dr. Anja Hesse, David Hugendick, Dr. Michael Schmitt, Prof. Dr. Julia Schöll und Dr. Wiebke Porombka. Die Expertenrunde würdigt jährlich ein erzählerisches Werk, das als herausragender Beitrag zur deutschen Gegenwartsliteratur gilt. Die Preisverleihung ist an die Bedingung geknüpft, dass das ausgezeichnete Werk im jeweiligen Kalenderjahr erschienen ist.
Zu den bisherigen Preisträgern gehören Rainald Goetz, Jochen Missfeldt, Ralf Rothmann, Wolf Haas, Katja Lange-Müller, Andreas Maier, Sibylle Lewitscharoff, Christian Kracht, Marion Poschmann, Thomas Hettche und Clemens J. Setz, Heinz Strunk, Petra Morsbach, Judith Schalansky, Norbert Scheuer, Christine Wunnicke, Gert Loschütz, Jan Faktor und Judith Hermann.
Hörhinweis zur Preisverleihung
Eine Aufzeichnung der feierlichen Preisverleihungsmatinee wird am Samstag, den 30. November 2024, ab 20:05 Uhr im Deutschlandfunk ausgestrahlt. Interessierte Hörer haben so die Gelegenheit, die Laudatio, Stanišićs Dankesrede und die feierliche Atmosphäre der Preisverleihung nachzuerleben.
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