„Alles war auf der Flucht, alles war nur vorübergehend, aber wir wußten noch nicht ob dieser Zustand bis morgen dauern würde oder noch ein paar Wochen oder unser ganzes Leben.“ (Anna Seghers, Transit)
Anna Seghers’ „Transit“ – Leben und Liebe in der Zwischenwelt des Exils
Anna Seghers’ „Transit“, ein zentrales Werk der deutschen Exilliteratur, fängt die existenzielle Zerrissenheit der Flüchtlinge während des Zweiten Weltkriegs eindringlich ein. Das Buch wurde zuerst 1944 in englischer und spanischer Übersetzung veröffentlicht und kam erst nach Kriegsende in deutscher Sprache heraus, zuerst 1948 in der Bundesrepublik Deutschland und 1951 in der DDR. Diese verzögerte Veröffentlichungsgeschichte spiegelt die Nachkriegsproblematik und die politische Bedeutung wider, die dem Roman sowohl im Westen als auch im Osten zugeschrieben wurde. „Transit“gilt bis heute als eine tiefgehende Auseinandersetzung mit Flucht, Identität und Solidarität und vermittelt eine universelle Botschaft, die weit über die Umstände des Zweiten Weltkriegs hinausgeht.
Die Handlung: Eine verzweifelte Flucht endet im Transit von Marseille
Die Handlung beginnt mit einem namenlosen Erzähler, einem jungen deutschen Mann, der dem Konzentrationslager entkommen ist und sich nach der Inhaftierung in einem französischen Gefangenenlager auf den Weg nach Süden macht. Nach einer dramatischen Flucht erreicht er im Herbst 1940 Marseille, wo er wie viele andere Flüchtlinge auf Papiere wartet, die ihm die Ausreise ermöglichen sollen. Marseille ist überfüllt mit Menschen, die aus allen Teilen Europas geflüchtet sind und nun hier gestrandet sind. Diese Hafenstadt wird zur „Zwischenwelt“, einem Ort des Wartens, des Hoffens und der Ungewissheit. Die Flüchtlinge sehen sich einer neuen Art von Hölle gegenüber – das zermürbende Warten auf Visa und Ausreisedokumente, das quälende Hin und Her auf den Fluren der Konsulate und die immer gleichen Gespräche in den Cafés am Hafen. Die Flucht vor den Verbrechen des Nationalsozialismus und den Schrecken des Krieges endet hier in einer zähen Existenz ohne Perspektive.
Zwischen Liebe und Identität: Die Begegnung mit Marie
Inmitten dieser absurden Welt, die zwischen Hoffnung und Resignation schwankt, begegnet der Protagonist Marie, der Frau des verstorbenen Schriftstellers Weidel, und verliebt sich in sie. Um seiner eigenen Situation zu entkommen und möglicherweise auch, um ihr nahe zu sein, nimmt er die Identität des toten Weidel an. Dabei findet er in Weidels Koffer neben persönlichen Dokumenten auch ein Manuskript und zwei Briefe, aus denen hervorgeht, dass Weidel und seine Frau ein Visum für Mexiko hatten. Dieses Visum erweist sich als Chance für den Erzähler, seinen Aufenthalt in Marseille zu verlängern und sich neue Möglichkeiten zu verschaffen – und zugleich wird die Identitätsübernahme zu einem weiteren Schritt in die Zerrissenheit und den Verlust der eigenen Identität.
Der Transit als Metapher: Ein Leben in der Zwischenwelt
Das Leben der Flüchtlinge in Marseille wird zu einem Bild des zähen „Dazwischenseins“, des Transits, wie es der Titel treffend bezeichnet. „Transit“ fungiert nicht nur als geografischer und rechtlicher Zustand, sondern als tiefgehende Metapher für das Leben der Flüchtenden im Exil, die in einer unbestimmten Zwischenwelt feststecken. Diese Erfahrung ist geprägt von Bürokratie, quälender Ungewissheit und einer unendlichen Aneinanderreihung von Tagen, an denen nichts geschieht und die Hoffnung langsam verfliegt. Die menschliche Anpassungsfähigkeit, die Fähigkeit, sich selbst an die schlimmsten Zustände zu gewöhnen, wird dabei zu einem der zentralen Themen. Seghers zeigt in einer klaren und nüchternen Sprache, wie die Menschen in dieser Transit-Welt abstumpfen, wie sie ihre Empathie verlieren und im ständigen Kreislauf von Warten, Hoffen und Enttäuschungen innerlich erstarren. Zugleich beleuchtet sie eine bemerkenswerte menschliche Eigenschaft: Auch in den schlimmsten Situationen bleibt die Fähigkeit zur Solidarität lebendig. Solidarität wird im Roman zur überlebenswichtigen Kraft – die Unterstützung unter den Flüchtlingen und die Hilfsbereitschaft des mexikanischen Konsulats sind notwendige Elemente, um die Herausforderungen des Exils zu überstehen.
Solidarität und Menschlichkeit: Hilfe aus unerwarteter Richtung
Ein besonderer Aspekt des Romans ist die Darstellung der Unterstützung durch das mexikanische Konsulat, das während des Krieges etwa 40.000 Flüchtlinge aufnahm und auch im Roman eine zentrale Rolle spielt. Diese Geste der Solidarität verleiht dem Roman eine optimistische Dimension und zeigt, dass Menschlichkeit selbst in einer entmenschlichenden Welt bestehen kann. Auch der Protagonist findet im Laufe der Handlung wieder zu seiner Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden, und beginnt sich um das Schicksal der Menschen um ihn herum zu kümmern. Die Erfahrung des gemeinsamen Wartens und die immer wieder aufkeimende Hoffnung wecken in ihm den Wunsch, andere zu unterstützen. In einem verspäteten Akt der Selbstlosigkeit verschafft er Marie und ihrem neuen Lebensgefährten die nötigen Papiere für die Flucht und gibt dabei seine eigene Ausreisechance auf.
Erzählweise: Mündlicher Stil und filmische Dynamik
Seghers erzählt die Geschichte in einem einzigartigen Stil, der dem Leser das Gefühl gibt, selbst Teil der Erzählung zu sein. Der Roman wird aus der Perspektive des Protagonisten als eine Art Erfahrungsbericht erzählt, was eine Nähe und Authentizität erzeugt, die die Unsicherheiten und Konflikte der Figuren greifbar macht. Die dramatisierenden Dialoge und die filmische Erzähltechnik, die zwischen berichtenden Abschnitten im Präteritum und szenischen Passagen im Präsens wechselt, verstärken den Eindruck einer lebendigen Erzählung. Dies verleiht dem Text eine besondere Dynamik und unterstreicht die Zerrissenheit und Unentschlossenheit des Protagonisten.
Realismus und Symbolik: Eine politische und poetische Erzählweise
Seghers kombiniert in „Transit“ realistische und künstlerische Elemente, um eine politische und emotionale Wirkung zu erzielen. Die teils realistisch, teils poetisch gestalteten Passagen ermöglichen es dem Leser, die zermürbende Realität der Flüchtenden mitzuerleben und gleichzeitig die symbolische Ebene des Romans zu erkennen. Diese Erzählweise lässt sich auch als Kritik an traditionellen Realismuskonzepten verstehen und reflektiert Seghers’ eigene politische Einstellung sowie ihre Distanzierung von bestimmten dogmatischen marxistischen Vorstellungen. Das zyklische Geschichtsbild, das im Roman immer wieder durch transhistorische Passagen unterbrochen wird, widerspricht dem linearen Fortschrittsdenken und deutet auf die immerwährende Aktualität der Fluchterfahrungen hin.
Rezeption im Kalten Krieg: Ost und West im Spiegel des Exils
Nach der Erstveröffentlichung erlebte „Transit“ im geteilten Nachkriegsdeutschland unterschiedliche Lesarten. Während der Roman im Osten als antifaschistisches und solidarisches Werk interpretiert wurde, fokussierte sich die westliche Rezeption auf die existenziellen Themen des Exils und der Identitätssuche. In den 1970er und 1980er Jahren, mit der Entspannungspolitik und der Annäherung zwischen Ost und West, verlagerte sich das Textverständnis zunehmend auf eine entideologisierte Interpretation. Themen wie Flucht und Asyl gewannen an Bedeutung, und „Transit“ wurde zunehmend als universelle Metapher für das menschliche Dasein im Exil gelesen. Ein Beispiel für diese Entwicklung ist Volker Brauns Theaterstück Transit Europa. Der Ausflug der Toten (1984/85), das die Motive aus Seghers’ Roman aufgreift und die Erfahrungen von Flucht und Identitätsverlust in einem zeitlosen Rahmen darstellt.
Zeitlose Aktualität: Petzolds Verfilmung und die moderne Flüchtlingsproblematik
Die Aktualität von „Transit“ fand auch in Christian Petzolds Verfilmung aus dem Jahr 2018 eine neue Dimension. Petzold versetzt die Handlung des Romans in eine zeitlose Gegenwart und stellt die Flüchtlingsthematik als universales und aktuelles Problem dar, das auch heute die Weltpolitik prägt. Durch die Vermischung historischer und gegenwärtiger Elemente entsteht in Petzolds Film eine bedrückende Vorahnung eines potenziell totalitären Europas, das erneut zur Bühne von Flucht und Vertreibung werden könnte.
Ein zeitloses Werk der Exilliteratur: Der Appell an Menschlichkeit und Solidarität
Anna Seghers’ „Transit“ bleibt damit ein zeitloses Werk, das die fragile menschliche Existenz im Exil beleuchtet. Es stellt die grundlegenden Fragen nach Heimat, Identität und Solidarität und führt dem Leser eindringlich die Auswirkungen der Entwurzelung und das zermürbende Leben im „Transit“ vor Augen. Seghers’ Appell an Menschlichkeit und die Darstellung von Solidarität als Überlebensstrategie machen den Roman auch in der heutigen Zeit zu einem wichtigen literarischen Zeugnis.