Das Buch Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung von Dirk Oschmann sorgt für eine hitzige Debatte. Der Titel allein provozierte bereits unterschiedliche Interpretationen und scharfe Kritiken. Der Streit um die russische Übersetzung entfaltet nun jedoch eine viel tiefere Kontroverse. Durch Anpassungen und Eingriffe, die weit über die gewöhnliche Übersetzungsarbeit hinausgehen, scheint das Werk in Russland ein antiwestliches Narrativ zu unterstützen – eine Entwicklung, die maßgeblich durch die öffentlichen Reaktionen des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk ins Zentrum der medialen Aufmerksamkeit geriet.
Anpassungen in der russischen Übersetzung: Manipulation oder kulturelle Anpassung?
"Орки с Востока. Как Запад формирует образ Востока. Немецкий сценарий“ - "Orks aus dem Osten. Wie der Westen das Bild des Ostens prägt. Das deutsche Szenario"
Im Zentrum des Skandals steht der veränderte Titel in der russischen Ausgabe, die unter dem Namen „Orks aus dem Osten: Wie der Westen das Bild des Ostens prägt. Das deutsche Szenario“ veröffentlicht wurde. Die Entscheidung, „Orks“ im Titel zu verwenden, verstärkte die politische Brisanz. Der Begriff „Orks“, abgeleitet aus der populären Fantasyliteratur Tolkiens, wird in der russischen Medienlandschaft seit Beginn des Ukraine-Krieges abwertend für russische Soldaten genutzt. Historiker und Kritiker wie Ilko-Sascha Kowalczuk sehen darin eine „erschreckende Anbiederung“ an die Sprachpolitik des Kreml. Kowalczuk äußerte in einem seiner Tweets: „Die Russen werden in der Ukraine ‚Orks‘ genannt – hier werden die Ostdeutschen zu Orks. Wollten das Ullstein und Oschmann wirklich?“
Neben der Umbenennung im Titel kritisieren Beobachter textliche Eingriffe, die den geopolitischen Ton des Buches maßgeblich beeinflussen. So wird „Putins Krieg gegen die Ukraine“ in der russischen Version zu einem neutralen „Konflikt zwischen Russland und der Ukraine“. Aus „Putins Krieg hat auch das zerstört“ wird „Der Februar 2022 hat auch das ruiniert“. Diese sprachlichen Änderungen spiegeln die offizielle Sprachregelung russischer Medien wider und schwächen die klare Positionierung des Originals ab. Laut Kowalczuk trägt dies zur Propagierung eines russischen Opfer-Narrativs bei, in dem der Westen als Aggressor dargestellt wird.
Kowalczuks harsche Kritik auf X: Ein Weckruf an die Öffentlichkeit?
Ilko-Sascha Kowalczuk, selbst in der DDR aufgewachsen und mit der Historie des Ost-West-Konflikts bestens vertraut, führte die mediale Debatte auf Twitter (X) an. Seine scharfen Posts brachten das Thema auf die Tagesordnung und trugen maßgeblich zur öffentlichen Diskussion bei. Er beschreibt die Veröffentlichung des Buches in dieser Form als einen „Verrat an westlichen Werten“. In einem seiner Tweets schreibt er: „Wer sich der Sprachpolitik des Kreml unterwirft, verrät Grundprinzipien der Meinungsfreiheit und der Menschenrechte. Es ist entsetzlich, wozu deutsche Verlage und Intellektuelle fähig sind!“
Kowalczuk sieht die Veränderungen als bewusste Entscheidung des Verlags und wirft Ullstein und Oschmann vor, sich naiv oder gar willentlich den Anforderungen des russischen Markts unterworfen zu haben. Die Frage, ob Oschmann sich dieser Änderungen bewusst war, bleibt jedoch unklar. Der Autor selbst erklärte gegenüber der Sächsischen Zeitung, er habe sich auf den Verlag verlassen und sei nicht über die genauen Eingriffe informiert worden. Der Ullstein-Verlag distanzierte sich inzwischen von der Veröffentlichung und kündigte die Lizenz mit dem russischen Verlag Azbooka-Atticus, da dieser die vertragliche Vereinbarung einer originalgetreuen Übersetzung verletzt habe.
Politische Dimension und moralische Verantwortung: Wer trägt die Verantwortung?
In der öffentlichen Diskussion wird zunehmend die Frage nach der Verantwortung von Verlagen und Autoren im internationalen Geschäft aufgeworfen. Der Spiegel kommentierte, dass Oschmann sich kaum auf Unwissenheit berufen könne, da er die Veröffentlichung auf seiner eigenen universitären Website ankündigte und den geänderten Titel dort in kyrillischer Schrift präsentierte. Die Welt sieht in den Anpassungen eine „massive inhaltliche Verschiebung“, die das ursprüngliche Werk unkenntlich macht und die russische Propaganda unterstützt. Auch die Sächsische Zeitung wies darauf hin, dass Ullstein den russischen Verlag zwar juristisch überprüfte, sich jedoch darauf verließ, dass dieser auf der EU-Sanktionsliste nicht aufgeführt war. Die minimalistische Prüfung wirkt im Nachhinein unzureichend, angesichts der gravierenden Änderungen am Inhalt.
Kowalczuk hält die Veröffentlichung im gegenwärtigen Russland für politisch naiv. Die Umbenennung und die Abschwächung zentraler Aussagen des Buches lassen den Eindruck entstehen, dass der Osten gezielt für russische Propagandazwecke vereinnahmt wird. In einem Post erklärte Kowalczuk, er habe „nie erwartet, dass ein deutscher Verlag so unkritisch eine Veröffentlichung in einem Land zulässt, das die Meinungsfreiheit derart unterdrückt“. Für ihn zeigt die Kontroverse, wie dringend notwendig eine Debatte über die kulturelle und moralische Verantwortung von Autoren und Verlagen ist.
Reaktionen auf die Kontroverse und die Rolle des Ullstein-Verlags
Der Ullstein-Verlag betonte in einer Stellungnahme, dass die Änderungen weder von Oschmann noch vom Verlag autorisiert worden seien. Ullsteins Geschäftsführer Karsten Kredel erklärte, man sei „getäuscht worden“ und versicherte, dass eine juristische Prüfung zur Verhinderung weiterer Verkäufe eingeleitet wurde. Dennoch bleibt offen, inwieweit der Verlag tatsächlich verhindern kann, dass die modifizierte Version weiterhin im russischen Markt zirkuliert, da Rechtsdurchsetzungen in Russland oft problematisch sind.
Die Kritik an Ullstein geht über die Frage hinaus, ob der Verlag die Inhalte vor Veröffentlichung sorgfältig geprüft hat. Die Sächsische Zeitung betont die möglichen wirtschaftlichen Interessen des Verlags am russischen Markt, und der Nordkurier warnt vor den geopolitischen Implikationen, die eine solche Veröffentlichung in autoritären Staaten haben kann. Kritiker vermuten, dass finanzielle Motive die Überlegungen von Ullstein beeinflusst haben könnten, obwohl sich der Verlag stets auf die ethische Verpflichtung zur Meinungsfreiheit beruft.
Übersetzungen in geopolitisch sensiblen Kontexten: Unübliche Anpassungen?
Grundsätzlich sind Anpassungen bei Übersetzungen an kulturelle Unterschiede üblich, doch die Frage nach der Grenze solcher Eingriffe bleibt bestehen. Dass jedoch zentrale politische Aussagen wie „Putins Krieg gegen die Ukraine“ in einen „Konflikt zwischen Russland und der Ukraine“ verwandelt werden, sprengt die allgemein akzeptierten Normen für Übersetzungen. Die Veränderungen in der russischen Ausgabe von Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung gehen weit über landestypische Anpassungen hinaus und werfen ein Schlaglicht darauf, wie Übersetzungen in autoritären Regimen gezielt für politische Zwecke instrumentalisiert werden können.
Die Debatte um Oschmanns Buch und die damit verbundenen Eingriffe durch den russischen Verlag zeigen eindrücklich, wie Übersetzungen als politisches Mittel eingesetzt werden können, um die öffentliche Wahrnehmung zu beeinflussen. In demokratischen Ländern sind solche tiefgehenden Anpassungen in der Regel unüblich, da sie die Authentizität des Originalwerks gefährden. Insbesondere in politisch sensiblen Märkten wird jedoch häufig auf eine präzise Übersetzung verzichtet, um die Botschaft an die herrschenden Narrative anzupassen.
Die Anpassungen in der russischen Ausgabe von Oschmanns Buch erinnern daran, dass Übersetzungen politischer Werke immer auch eine Frage der moralischen Verantwortung sind. Die Veröffentlichung zeigt exemplarisch, wie Autoren und Verlage den Spagat zwischen kultureller Anpassung und ideologischer Manipulation bewältigen müssen. Kowalczuks Einwände und die darauf folgende öffentliche Diskussion eröffnen neue Fragen zur Verantwortung deutscher Verlage und Autoren, wenn ihre Werke in politisch instabilen Regionen erscheinen.
https://www.nordkurier.de/politik/streit-um-uebersetzung-3035869
https://x.com/IlkoKowalczuk/status/1851028583432503528