„Verlorene Sterne“ von Tommy Orange ist eine Fortsetzung und gleichzeitig eine tiefergehende Erkundung seines Debütromans „Dort dort“, der die Geschichten indigener Amerikaner in den USA behandelt. In „Verlorene Sterne“ zeichnet Orange über Generationen hinweg das Porträt einer Familie, die mit den Folgen von Kolonialismus, Unterdrückung und Kulturverlust ringt. Erschienen ist der Roman im Deutschen im August 2024 bei Hanser. „Verlorene Sterne“ wurde von Hannes Meyer ins Deutsche übersetzt.
„Verlorene Sterne“ von Tommy Orange: Eine Geschichte über Verlust, Identität und das Erbe der indigenen Bevölkerung
Der Roman beleuchtet das Leben von sieben Generationen der Star-Familie und spiegelt dabei sowohl die schmerzhaften Realitäten als auch die widerstandsfähige Kraft der indigenen Gemeinschaft wider. Oranges Werk ist ein unverzichtbares Buch für all jene, die mehr über die ungehörten Stimmen indigener Amerikaner erfahren möchten und sich für literarische Werke interessieren, die sowohl kunstvoll als auch aufrüttelnd sind.
Die Star-Familie und ihre untrennbare Verbindung zur Geschichte der indigenen Bevölkerung
„Verlorene Sterne“ knüpft dort an, wo „Dort dort“ aufgehört hat, und geht noch tiefer in die Verstrickungen und traumatischen Erlebnisse der Familie Star ein. Der Roman ist strukturiert in drei Teile, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft abdecken und zeigt auf, wie die erlebten und weitergegebenen Traumata die Familie über Generationen hinweg prägen.
Im Zentrum der Geschichte steht die Familiengeschichte von Jude Star, einem Überlebenden des Massakers, und Victor Bear Shield, einem engen Freund von Jude. Beide Männer nehmen gezwungenermaßen neue Namen an: Jude Star wählt einen biblischen Namen, während Victor seinen Namen aus Mary Shelleys Roman Frankenstein ableitet. Diese Namenswahl steht symbolisch für die kulturelle Entwurzelung und das Aufzwingen neuer Identitäten. Die folgende Generation umfasst unter anderem die Schwestern Jacquie Red Feather und Opal Viola Victoria Bear Shield, die beide schwierige Lebenswege beschreiten. Jacquie gerät in eine Spirale aus Drogen und Alkohol, die durch das Trauma des Selbstmords ihrer Tochter verschärft wird, während ihre Schwester Opal ebenfalls ein Leben voller Belastungen führt.
Vicky, die Tochter von Opal und Jude Stars Sohn Charles, wächst in einer weißen Familie auf und entfremdet sich so zunehmend von ihren eigenen kulturellen Wurzeln. Erst später im Leben beginnt sie, ihre indigene Herkunft zu erkunden. Jacquies Enkelsöhne, die zur dritten Generation der Familie gehören, erleben ebenfalls eine Entfremdung von ihrer Kultur, jedoch mit einem Funken Hoffnung auf Rückkehr und Erneuerung ihrer indigenen Identität.
Orange verwendet eine multiperspektivische Erzählweise, um die komplexen und oft schmerzhaften Erfahrungen der Figuren zu verdeutlichen. Dies ermöglicht dem Leser, die verschiedenen Aspekte und Lebensrealitäten indigener Amerikaner kennenzulernen – vom Verlust kultureller Identität über die Auswirkungen staatlicher Gewalt bis hin zur Suche nach einem Platz in einer Gesellschaft, die ihre Geschichte oft ignoriert oder verdrängt hat.
Der Verlust der kulturellen Wurzeln: Ein zentrales Motiv
Ein zentrales Thema des Romans ist der Verlust der kulturellen Wurzeln und die Frage nach Zugehörigkeit. Die Figuren der Star-Familie sind gefangen zwischen zwei Welten: der amerikanischen Kultur, die sie als „Fremde“ behandelt, und den Wurzeln ihrer indigenen Vorfahren, die ihnen aber zunehmend entgleiten. Dieses Spannungsverhältnis stellt Orange in kraftvollen, manchmal schmerzhaften Bildern dar.
Er beschreibt, wie die Entfremdung von der eigenen Kultur den Figuren ein Gefühl der Leere und Orientierungslosigkeit gibt. Durch diese Darstellung gelingt es ihm, den Lesern die emotionale und psychologische Tiefe des kulturellen Verlusts nachvollziehbar zu machen.
Die Bedeutung der Vergangenheit für das Verständnis der Gegenwart
Ein weiteres Schlüsselthema ist die Rolle der Vergangenheit für das Verständnis der Gegenwart. Orange zeigt, dass die Geschichte der indigenen Bevölkerung – geprägt von Enteignung, Zwangsassimilation und Marginalisierung – in der Gegenwart weiterlebt.
Diese Vergangenheit ist nicht einfach „vorbei“; sie beeinflusst das Leben der Star-Familie auf eine Weise, die sich nicht vollständig kontrollieren lässt. Indem Orange die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart verdeutlicht, lädt er seine Leser dazu ein, die längerfristigen Folgen von kolonialer Gewalt und strukturellem Rassismus zu erkennen.
Erzählstruktur und sprachliche Besonderheiten: Ein literarisches Meisterwerk
Tommy Oranges Schreibstil ist sowohl poetisch als auch direkt. Die Sprache von „Verlorene Sterne“ wechselt zwischen erzählerischen Passagen, die von lyrischer Schönheit geprägt sind, und brutalen, ungeschönten Schilderungen von Gewalt und Schmerz. Diese sprachliche Vielfalt ermöglicht es Orange, eine Atmosphäre zu schaffen, die sowohl bedrückend als auch inspirierend ist.
Dabei greift er auf Stilmittel wie wechselnde Perspektiven, innere Monologe und wechselnde Tempi zurück, um den Leser in die emotionale Welt der Figuren einzutauchen. Durch die Fragmentierung der Erzählung und die Verschiebung zwischen den Zeitebenen macht er die schiere Komplexität der Familiengeschichte und die Fragmentierung der kulturellen Identität der Protagonisten spürbar.
Die Multiperspektivität als Spiegel der kollektiven Erfahrung
Die multiperspektivische Erzählweise erlaubt es Orange, die individuelle und kollektive Erfahrung der indigenen Bevölkerung zu vereinen. Jede Figur der Star-Familie bringt ihre eigenen Erfahrungen und Sichtweisen ein, doch gemeinsam bilden sie ein umfassendes Bild der kulturellen und sozialen Herausforderungen, denen indigene Amerikaner gegenüberstehen. Dieses narrative Konstrukt vermittelt nicht nur Vielfalt innerhalb der Gemeinschaft, sondern auch das Gefühl einer geteilten Identität, die über Generationen hinweg weiterlebt und eine kollektive Erinnerung bewahrt.
Symbolik und Metaphern: Die Sterne als Leitmotiv
In „Verlorene Sterne“ verwendet Orange symbolische Elemente, um die Verlorenheit und den Orientierungsdrang der Figuren zu verdeutlichen. Die Sterne dienen dabei als zentrales Leitmotiv und stehen für die Suche nach Heimat und Zugehörigkeit. Gleichzeitig symbolisieren sie die unendliche Weite des Universums und die Einsamkeit, die die Figuren in ihrem Dasein empfinden. Die Sterne sind ein Bild für das Unerreichbare – eine Erinnerung an das, was verloren ist, und an die Sehnsucht, es wiederzufinden.
Die kulturelle Relevanz von „Verlorene Sterne“: Ein wichtiger Beitrag zur Literatur der indigenen Bevölkerung
„Verlorene Sterne“ ist nicht nur ein literarisches Werk, sondern auch ein wichtiges kulturelles Dokument. Orange schafft es, auf eindringliche Weise die Erfahrungen der indigenen Gemeinschaft in den Vereinigten Staaten sichtbar zu machen. Sein Roman zeigt, wie die strukturelle Diskriminierung indigener Menschen bis heute fortbesteht und wie sich diese Realität auf das Leben seiner Figuren auswirkt. Orange gibt denen eine Stimme, die in der amerikanischen Geschichtsschreibung oft übersehen oder marginalisiert werden, und lädt seine Leser dazu ein, die Realität indigener Amerikaner aus einer neuen Perspektive zu betrachten.
Die Rolle des Romans in der modernen amerikanischen Literatur
„Verlorene Sterne“ ist ein bedeutender Beitrag zur modernen amerikanischen Literatur. Das Buch fügt sich in eine Reihe von Werken ein, die die Geschichte der Vereinigten Staaten aus einer marginalisierten Perspektive betrachten. Durch seine narrative Kraft und die unverblümte Darstellung der Herausforderungen, mit denen indigene Amerikaner konfrontiert sind, stellt Orange wichtige Fragen zu Themen wie Identität, Zugehörigkeit und kulturellem Erbe. Sein Werk zeigt auf, dass die Vergangenheit noch immer präsent ist und dass die Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit für das Verständnis der Gegenwart entscheidend ist.
Für wen ist „Verlorene Sterne“?
„Verlorene Sterne“ ist ein Buch für Leser, die sich für tiefergehende und anspruchsvolle Literatur interessieren. Die komplexe Erzählweise und die schmerzhaften Themen erfordern eine gewisse Bereitschaft zur Auseinandersetzung. Doch wer sich auf diesen Roman einlässt, wird mit einer tief berührenden und einzigartigen Geschichte belohnt, die einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt.
Das Buch ist besonders empfehlenswert für Leser, die sich für kulturelle und historische Themen interessieren und die Vielfalt der amerikanischen Gesellschaft aus neuen Perspektiven kennenlernen möchten.
Ein Leseerlebnis für alle, die sich für soziale Gerechtigkeit und kulturelle Vielfalt interessieren
Durch die Thematik und die intensive Erzählweise spricht „Verlorene Sterne“ Leser an, die gesellschaftlich relevante Literatur schätzen. Oranges Werk fordert zur Reflexion über das eigene Verständnis von Geschichte und Identität auf und sensibilisiert für die vielschichtige Realität der indigenen Bevölkerung in den Vereinigten Staaten. „Verlorene Sterne“ ist ein Roman, der nicht nur unterhält, sondern auch zum Nachdenken anregt und das Bewusstsein für soziale Gerechtigkeit schärft.
Ein literarisches Meisterwerk über die Suche nach Identität und Heilung
„Verlorene Sterne“ ist mehr als nur ein Familienepos. Tommy Orange hat mit diesem Werk eine Geschichte geschaffen, die sowohl literarisch anspruchsvoll als auch emotional fesselnd ist. Der Roman handelt von Verlust, Heilung und der nie endenden Suche nach Identität und Heimat. Durch seine kunstvolle Sprache, die vielschichtige Erzählstruktur und die starken, authentischen Charaktere hat Orange ein Werk geschaffen, das in Erinnerung bleibt und das Verständnis für die indigene Gemeinschaft vertieft.
„Verlorene Sterne“ ist eine kraftvolle Hommage an die Widerstandsfähigkeit und die kulturelle Tiefe der indigenen Gemeinschaften und ein Muss für jeden, der sich mit Fragen von Identität, Zugehörigkeit und kultureller Selbstfindung auseinandersetzen möchte.
Oranges Werk erinnert daran, dass Heilung oft erst durch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit möglich ist, und inspiriert uns dazu, uns mit unseren eigenen Wurzeln und Erfahrungen zu verbinden – für ein Leben in authentischer Verbundenheit mit uns selbst und unseren Mitmenschen.
Der Autor
Tommy Orange, geboren 1982 in Oakland, Kalifornien, ist ein bedeutender zeitgenössischer Schriftsteller und Mitglied der Cheyenne und Arapaho Tribes. In seinem Werk verarbeitet er die Erfahrungen indigener Gemeinschaften in modernen, urbanen Umgebungen, oft mit Fokus auf das Spannungsfeld von Identität und kultureller Entfremdung.
Sein Debütroman There There wurde 2018 veröffentlicht und war für den Pulitzerpreis nominiert; außerdem erhielt er den American Book Award sowie den John Leonard Prize des National Book Critics Circle.
Die renommierte Schriftstellerin Margaret Atwood und andere prominente Autoren lobten als einen kraftvollen Beitrag zur amerikanischen Literatur, der das indigene Erbe im urbanen Raum neu beleuchtet und literarische Konventionen aufbricht.
In There There und dem Nachfolger Wandering Stars, verwebt Orange persönliche und historische Narrative und greift Themen wie intergenerationelles Trauma und die kulturellen Auswirkungen der Native American Boarding Schools auf. Seine eigene Erfahrung, in Oakland und fernab traditioneller Reservatsstrukturen aufzuwachsen, prägte ihn stark und floss in seine literarische Arbeit ein. Orange studierte zunächst Sound Art und Musik, bevor er sich dem Schreiben widmete. Mit einem Abschluss vom Institute of American Indian Arts ist er Teil einer neuen Generation indigener Schriftsteller, die traditionelle Erzählweisen erweitern und aktualisieren, um ein moderneres Bild der indigenen Identität zu vermitteln.