In Denis Schecks Literatursendung Druckfrisch sprach Katja Lange-Müller über die Hintergründe ihres Romans „Unser Ole“, erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, und gewährte dabei tiefe Einblicke in die subtilen, autobiografischen Bezüge des Werks, das die oft schmerzhaften und ambivalenten Bindungen zwischen Müttern und Kindern thematisiert. Lange-Müller berichtete von ihrer eigenen, konfliktbeladenen Beziehung zur Mutter, einer SED-Politikerin in der DDR, die sie lieber weit weg nach Ulan Bator schickte, als ihr eine Zukunft im Westen zu ermöglichen. Diese Entscheidung prägte die Autorin nachhaltig und spiegelt sich in der emotionalen Distanz und den Spannungen wider, die im Roman thematisch anklingen – wenn auch ohne direkte Parallelen zu ihrer eigenen Vita. Auch ihre Erfahrungen als Hilfsschwester in einer geschlossenen Psychiatrie flossen in das Werk ein und verstärken die psychologische Tiefe und feine Beobachtungsgabe, mit der Lange-Müller familiäre Spannungen beschreibt.
Auf Schecks Frage, ob „Unser Ole“ als Beitrag zur literarischen Inklusion zu verstehen sei, antwortete Lange-Müller, dass sie dies nicht wisse, jedoch nichts dagegen hätte, wenn das Buch so wahrgenommen würde. Diese unvoreingenommene Haltung zeigt sich auch im Roman, der ohne ideologische Absicht das Leben eines heranwachsenden Jungen mit geistigen Einschränkungen aus einer authentischen, einfühlsamen Perspektive beleuchtet. So wird „Unser Ole“ nicht nur zur Geschichte über Verantwortung und Schuld, sondern auch zu einer Erzählung über die klaffenden Abgründe innerhalb einer Familie und das Beziehungsgeflecht zwischen drei Frauen und einem Jungen, die in einem abgelegenen Landhaus im Berliner Umland aufeinandertreffen.
Worum geht´s?
„Unser Ole“ erzählt von Elvira, die in einem Landhaus bei Berlin ihren Enkel Ole aufzieht. Obwohl Ole bereits ein Jugendlicher ist, ist seine Wahrnehmung aufgrund einer geistigen Einschränkung von kindlicher Unbeschwertheit geprägt. Elvira, eine resolute, mütterliche Figur, hat ihr Leben darauf ausgerichtet, Ole ein sicheres Zuhause zu bieten und die Bedürfnisse ihres Enkels in den Mittelpunkt zu stellen. Zu dieser ungewöhnlichen Gemeinschaft stößt die eigenwillige Ida, eine alte Bekannte Elviras, die sich erst in die häusliche Umgebung einfinden muss. Die harmonische Fassade der kleinen Wohngemeinschaft wird jedoch durch ein unerwartetes Unglück erschüttert, das lange verborgene Konflikte und Fragen nach Verantwortung an die Oberfläche bringt. Als Oles Mutter Manuela, die ihn als Säugling verlassen hat, wieder ins Leben der Figuren tritt, spitzt sich die Lage zu.
Lange-Müller entfaltet hier eine Erzählung über Verlust, Vergebung und das oft schwierige Zusammenleben in einer Familie. Die Handlung des Romans oszilliert dabei zwischen den Spannungen des Zusammenlebens und der Rückschau auf das Vergangene, das in das gegenwärtige Handeln der Figuren unweigerlich hineinwirkt.
Die drei Frauenfiguren und ihre Rollen im Roman
Elvira, Ida und Manuela sind drei Frauenfiguren, die auf unterschiedliche Weise ihre Verantwortung und ihre individuellen Herausforderungen in den Vordergrund stellen.
- Elvira ist eine Großmutterfigur, die sich mit aller Kraft um die Bedürfnisse ihres Enkels Ole kümmert. Sie zeigt sich in ihrem Alltag als fürsorglich, stark und pragmatisch, auch wenn die Doppelrolle als Großmutter und Ersatzmutter sie häufig an ihre Belastungsgrenzen führt. Ihre Geschichte offenbart nach und nach ihre eigenen Verluste und ihre Zweifel – doch ihr bedingungsloses Verantwortungsgefühl treibt sie immer wieder an.
- Ida, die als Freundin Elviras in die Gemeinschaft eintritt, bringt eine neue Dynamik in das Haus. Sie ist eine eher undurchsichtige, aber gleichzeitig selbstbewusste Figur, die das geregelte Leben der beiden aus der Balance bringt und das fragile Gleichgewicht der Familienkonstellation auf eine emotionale Belastungsprobe stellt.
- Manuela, Oles Mutter, bleibt über weite Strecken des Romans eine abwesende, unnahbare Figur. Lange-Müller legt hier den Fokus auf die Leerstelle, die Manuelas Abwesenheit hinterlassen hat und die für Ole und Elvira eine tiefere Bedeutungsebene einnimmt.
Die Konflikte, die sich zwischen den drei Frauen entspinnen, spiegeln die komplexe Frage nach der Rolle der Mutter und deren Erwartungen wider, ohne dass Katja Lange-Müller eine explizite Zuschreibung von Schuld vornimmt. Die Autorin schafft hier eine interessante Ambivalenz, die Raum lässt für Interpretationen und die Frage nach individuellen Entscheidungen und Verantwortungen in einem familiären Umfeld.
Ein Roman mit Tiefgang
Im Prolog von „Unser Ole“ stellt Katja Lange-Müller klar, dass die Geschichte nicht ausgedacht ist. Sie betont, dass die Erzählung zwar auf realen Ereignissen basiere, jedoch so geschrieben wurde, dass die Spuren zu den wahren Beteiligten verfremdet sind. Diese bewusste Verfremdung verleiht dem Werk eine zusätzliche Authentizität, ohne die Privatsphäre realer Personen zu gefährden, und ermöglicht es, persönliche und kollektive Erfahrungen in einer fiktionalen Erzählung zu verweben.
Erzählstil und sprachliche Gestaltung
Katja Lange-Müller ist bekannt für ihre präzise und klare Sprache, die das Geschehen direkt und ungeschönt vermittelt. Auch in „Unser Ole“ gelingt es ihr, mit einer schnörkellosen und zugleich eindringlichen Sprache die Konflikte und Spannungen zwischen den Figuren zum Ausdruck zu bringen. Die Beschreibung des abgelegenen Landhauses und der umgebenden Natur schafft eine fast greifbare Atmosphäre, die den Leser in die abgeschiedene Welt der Figuren hineinzieht.
Besonders die Dialoge zeichnen sich durch eine pointierte, aber dennoch zurückhaltende Ausdrucksweise aus, die das Unsagbare und die unausgesprochenen Gefühle zwischen den Figuren spürbar macht. Lange-Müller versteht es, die sprachlichen Nuancen so zu gestalten, dass die Emotionen und inneren Kämpfe der Figuren in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit und Tiefe zu Tage treten. Der Wechsel zwischen ruhigen Alltagsszenen und intensiven Momenten des Konflikts erzeugt eine spannende Dynamik, die das Buch bis zum Ende zu einem fesselnden Erlebnis macht.
Roman mit emotionaler Präzision
„Unser Ole“ ist ein Roman, der auf intensive und einfühlsame Weise das Zusammenspiel von familiären Bindungen und individuellen Entscheidungen beleuchtet. Die Figuren entfalten sich in all ihren Widersprüchen und Schwächen, und Katja Lange-Müller gelingt es, die Fragen nach Schuld und Verantwortung auf subtile Weise anzusprechen, ohne einfache Antworten zu liefern. Ihre Charaktere lassen Raum für eine differenzierte Betrachtung von Familienrollen und den oft unausgesprochenen Erwartungen, die sich in Generationenbeziehungen manifestieren.
Der Roman ist für Leserinnen und Leser, die sich für tiefgründige Erzählungen über Familie, menschliche Beziehungen und psychologische Themen interessieren, eine wertvolle Lektüre. „Unser Ole“ zeigt, dass Katja Lange-Müller mit viel Fingerspitzengefühl und literarischer Kunstfertigkeit die Themen Verantwortung und Selbstfindung innerhalb einer Familiengeschichte beleuchten kann – ganz ohne autobiografischen Bezug, aber mit einer eindrucksvollen Authentizität, die das Werk prägt.
Über die Autorin
Katja Lange-Müller wurde 1951 in Ostberlin geboren und zählt zu den angesehensten Schriftstellerinnen der Gegenwartsliteratur in Deutschland. Sie erhielt mehrfach literarische Auszeichnungen, darunter den Ingeborg-Bachmann-Preis und den Kleist-Preis. Ihre Werke sind bekannt für die präzise und lakonische Sprache sowie für die genaue Beobachtung menschlicher Verhaltensweisen und Schwächen. Lange-Müllers Bücher handeln oft von komplexen Themen wie Verantwortung und Schuld und sind geprägt von einer intensiven Auseinandersetzung mit den Abgründen des menschlichen Daseins.