Mit „Wolf“, erschienen bei Carlsen im April 2023, hat Saša Stanišić nun den Deutschen Jugendliteraturpreis in der Sparte Kinderbuch gewonnen. Die Geschichte um Kemi und dessen Auseinandersetzung mit Mobbing, Ausgrenzung und Gruppendynamik beeindruckte durch ihre literarische Tiefe und gesellschaftliche Relevanz.
„Wolf“ von Saša Stanišić – Gewinner des Deutschen Jugendliteraturpreises 2024 in der Sparte Kinderbuch
Diese Geschichte wurde bereits in Stanišićs 2016 erschienener Kurzgeschichtensammlung „Fallensteller“ unter dem Titel „Im Ferienlager im Wald“ veröffentlicht. Ursprünglich als Erzählung für Erwachsene gedacht, entschied sich Stanišić, die Geschichte für ein jüngeres Publikum zu adaptieren und letztes Jahr als eigenständiges, illustriertes Kinderbuch zu veröffentlichen. Mit dieser Neufassung im illustrierten Kinderbuchformat greift der Autor Jugend- und Kinderängste vorm Mobbing und auch den daraus entstehenden Mut und die Kraft auf in einer kindgerechter Erzählweise, die durch die Illustrationen von Regina Kehn gewinnbringend unterstützt wird.
Worum geht es:
Die Geschichte von „Wolf“ spielt in einem Ferienlager im Wald von Brandenburg, in das der zwölfjährige Kemi widerwillig geschickt wird. Kemi hasst die Natur und fühlt sich sichtlich unwohl in der Umgebung, die er als feindselig und unbequem empfindet. Er macht den Betreuern gleich zu Beginn klar, dass er keinerlei Interesse an den Aktivitäten hat, die im Lager geplant sind. Kemi ist ein pessimistischer Außenseiter, der lieber beobachtet als sich einzufügen, und zieht sich innerlich von den anderen Kindern zurück.
Kemi teilt sich eine Hütte mit Jörg, einem Jungen, der das Mobbingopfer der Gruppe ist. Jörg wird regelmäßig von den anderen Kindern, insbesondere Marko und den Dreschke-Zwillingen, schikaniert und ausgegrenzt. Niemand will mit ihm etwas zu tun haben, und er verbringt die meisten Pausen alleine. Auch Kemi distanziert sich zunächst von Jörg, aus Angst, selbst zum Ziel der Gruppe zu werden.
Im Laufe des Ferienlagers wird Kemi jedoch zunehmend Zeuge des Verhaltens der Gruppe und des Mobbings, das gegen Jörg gerichtet ist. Bei einer Klettertour, bei der Jörg von Marko gefährdet wird, greift Kemi schließlich ein, um Schlimmeres zu verhindern. Dieser Moment markiert eine Wende in der Geschichte und zeigt, wie Kemi langsam den Mut findet, sich gegen das Unrecht zu stellen.
Das zentrales Symbol immer wieder im Buch auftretende Thema ist der Wolf, der vor der Hütte von Kemi und Jörg erscheint. Der Wolf bleibt mysteriös und geheimnisvoll, steht an Stelle von Ängsten, Schuld und die Bedrohung durch das Mobbing. Stanišić lässt die genaue Bedeutung des Wolfs jedoch offen, was den Lesern Raum für eigene Auslegungen gibt.
Zivilcourage und die innere Zerrissenheit:
„Wolf“ zeichnet sich durch eine außergewöhnliche poetische Sprache und eine kluge Erzählperspektive aus. Der Roman wird aus der Ich-Perspektive von Kemi erzählt, dessen ironische, manchmal zynische Sicht auf das Ferienlager und die Natur den Erzählton prägt. Kemi ist ein Außenseiter, der die Natur und die Lageraktivitäten verachtet und lieber beobachtet, anstatt sich einzubringen. Seine scharfsinnige und humorvolle Erzählweise verleiht dem Buch einen besonderen Charme, der auch für ältere Leser unterhaltsam ist.
Die Themen Mobbing und Gruppendynamik werden realistisch und einfühlsam dargestellt. Stanišić zeigt eindrucksvoll, wie soziale Strukturen und Ängste dazu führen, dass Kinder wie Kemi zunächst schweigen und wegsehen, aus Angst, selbst Opfer zu werden. Gleichzeitig illustriert das Buch die Komplexität von Zivilcourage und die innere Zerrissenheit, die viele Kinder in solchen Situationen empfinden. Der Moment, in dem Kemi Jörg bei der Klettertour schützt, zeigt die Entwicklung des Protagonisten – vom passiven Beobachter hin zum mutigen Unterstützer.
Der Wolf steht als Symbol und verleiht dem Buch zusätzliche Tiefe. Der Wolf taucht vor der Hütte auf und wird sowohl von Kemi als auch von Jörg gesehen. Diese rätselhafte Figur steht möglicherweise für Ängste, Schuld oder die Bedrohung durch das Mobbing. Da Stanišić die Bedeutung des Wolfs nicht vollständig erklärt, bleibt das Buch offen für verschiedene Interpretationen, was es besonders für ältere Kinder und Jugendliche interessant macht.
Die Illustrationen von Regina Kehn verstärken die Atmosphäre des Buches. Ihre Zeichnungen in Schwarz und Gelb sind schlicht, aber kraftvoll. Sie fangen die Stimmung der Geschichte ein und unterstützen die emotionale Dichte der Erzählung, ohne den Text zu dominieren. Kehns Zeichnungen passen perfekt zur düsteren, zugleich aber auch humorvollen und poetischen Tonalität des Romans.
Autor und Illustratorin:
Saša Stanišić, 1978 in Bosnien und Herzegowina geboren, ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren im deutschsprachigen Raum. Nach seiner Flucht vor dem Bosnienkrieg kam er nach Deutschland und begann seine schriftstellerische Karriere. Er ist bekannt für seine poetische Sprache und seinen reflektierten Umgang mit Themen wie Identität, Migration und Zugehörigkeit. Mit Werken wie „Herkunft“ und „Wie der Soldat das Grammofon repariert“erlangte er große Anerkennung. „Wolf“ ist sein erster großer Ausflug in die Kinderliteratur, bei dem er erneut seine Vielseitigkeit als Autor unter Beweis stellt.
Regina Kehn ist eine angesehene deutsche Illustratorin, die vor allem für ihre Arbeiten an Kinder- und Jugendbüchern bekannt ist. Ihre Zeichnungen stechen durch klare, reduzierte Linien und eine sanfte Farbgebung hervor, die die Geschichten, die sie begleiten, wunderbar unterstreichen, ohne sie zu dominieren. Gerade diese perfekte Balance zwischen Bild und Text macht ihre Werke so zugänglich und ansprechend – besonders für junge Leser.
1962 in Hamburg geboren, studierte Kehn an der Fachhochschule für Gestaltung und spezialisierte sich auf Illustration. Seit 1988 arbeitet sie als freiberufliche Illustratorin und hat für viele namhafte Verlage und Magazine gezeichnet. Ihre Werke wurden mehrfach ausgezeichnet, was ihren Status als bedeutende Künstlerin in diesem Bereich unterstreicht.
Heute lebt Regina Kehn mit ihrer Familie in Hamburg und begeistert nach wie vor mit ihren Illustrationen sowohl Kinder als auch Erwachsene.
Info:
Der Deutsche Jugendliteraturpreis ist eine renommierte Auszeichnung im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland. Er wird seit 1956 jährlich verliehen und zeichnet herausragende Werke in diesem Genre aus. Der Preis wird in verschiedenen Kategorien vergeben, darunter Bilderbuch, Kinderbuch, Jugendbuch und Sachbuch. Es gibt auch einen Preis der Jugendjury, der von Jugendlichen selbst vergeben wird.
Der Preis ist mit insgesamt 72.000 Euro dotiert und wird vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gestiftet. Die Organisation und Durchführung des Preises übernimmt der Arbeitskreis für Jugendliteratur.
Die Verleihung des Deutschen Jugendliteraturpreises hat sich zu einer wichtigen Institution in der literarischen Landschaft Deutschlands entwickelt und trägt dazu bei, die Aufmerksamkeit auf literarisch wertvolle Werke zu lenken, die jungen Lesern zugänglich sind. Sie fördert außerdem das Lesen und die literarische Bildung von Kindern und Jugendlichen.
Hier bestellen
Topnews
Ein Geburtstagskind im November: Astrid Lindgren
Geburtstagskind im Oktober: Benno Pludra zum 100. Geburtstag
Das Geburtstagskind im September: Roald Dahl – Der Kinderschreck mit Engelszunge
Ein Geburtstagskind im August: Johann Wolfgang von Goethe
Hans Fallada – Chronist der kleinen Leute und der inneren Kämpfe
Ein Geburtstagskind im Juni: Bertha von Suttner – Die Unbequeme mit der Feder
Ein Geburtstagskind im Mai: Johannes R. Becher
Ein Geburtstagskind im April: Stefan Heym
Ein Geburtstagskind im März: Christa Wolf
Bertolt Brecht – Geburtstagskind im Februar: Ein literarisches Monument, das bleibt
Wie Banksy die Kunst rettete – Ein überraschender Blick auf die Kunstgeschichte
Ein Geburtstagskind im Januar: Franz Fühmann
Zauberberg 2 von Heinz Strunk
100 Jahre „Der Zauberberg“ - Was Leser heute daraus mitnehmen können
Oschmann: Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung“ – Umstrittene russische Übersetzung
Überraschung: Autorin Han Kang hat den Literaturnobelpreis 2024 gewonnen
PEN Berlin: Große Gesprächsreihe vor den Landtagswahlen im Osten
„Freiheitsschock“ von Ilko-Sascha Kowalczuk
Precht: Das Jahrhundert der Toleranz
Juli Zeh und Saša Stanišić: Wie ist es, ein Kinderbuch zu schreiben?
Mumpelmoff und das Wunder am Schloss von Bo Starker
Eva Lindström erhält Astrid-Lindgren-Gedächtnispreis
Tanja Kasischke erhält Lesepreis 2020 für Grundschulprojekt
Kinder- und Jugenbuchautorin Gudrun Pausewang gestorben
Abenteuerlich durch die Weihnachts- und Winterferien
Die Schriftstellerin Mirijam Pressler ist gestorben
Bastei Lübbe: Diese Promis und Autoren kommen nach Leipzig
Zeit Leo plant vier Kinderbücher
Geschenktipp zu Weihnachten: Otfried Preußlers Die kleine Hexe
Elizabeth Shaw: Der kleine Angsthase
Gregs Tagebuch 20 – Bock auf Party?
Benno Plura: Bootsmann auf der Scholle
Nelio Biedermann („Lázár“): Warum alle über Biedermann reden
Lyman Frank Baum – Der Zauberer von Oz
Aktuelles
Spuren im Weiß – Ezra Jack Keats’ „The Snowy Day“ als stille Poetik der Kindheit
Der Mann im roten Mantel – The Life and Adventures of Santa Claus von L. Frank Baum
Die Illusion der Sicherheit – wie westliche Romane den Frieden erzählen, den es nie gab
Beim Puppendoktor – Ein Bilderbuch über das Kind und sein Spiel
Denis Scheck über Fitzek, Gewalt und die Suche nach Literatur im Maschinenraum der Bestseller
Die Frauen von Ballymore von Lucinda Riley- Irland, eine verbotene Liebe und ein Geheimnis, das nachhallt
Katrin Pointner: Willst du Liebe
Geschenktipp zu Weihnachten: Otfried Preußlers Die kleine Hexe
Zwischen Fenster und Flug – Nikola Huppertz’ Gebrannte Mandeln für Grisou
Die stille Heldin von Hera Lind – Eine Mutter hält die Welt zusammen
Winnetou: Die besten Karl-May-Bände
Kiss Me Now von Stella Tack – Prinzessin, Personenschutz, Gefühlsernst
Kiss Me Twice von Stella Tack – Royal Romance mit Sicherheitsprotokoll
Literatur zum Hören: Was die BookBeat-Charts 2025 über Lesegewohnheiten verraten
László Krasznahorkais neuer Roman „Zsömle ist weg“
Rezensionen
Kiss Me Once von Stella Tack – Campus, Chaos, Bodyguard: eine Liebesgeschichte mit Sicherheitslücke
Die ewigen Toten von Simon Beckett – London, Staub, Stille: Ein Krankenhaus als Leichenschrein
Totenfang von Simon Beckett – Gezeiten, Schlick, Schuld: Wenn das Meer Geheimnisse wieder ausspuckt
Verwesung von Simon Beckett – Dartmoor, ein alter Fall und die Schuld, die nicht verwest
Leichenblässe von Simon Beckett – Wenn die Toten reden und die Lebenden endlich zuhören
Kalte Asche von Simon Beckett – Eine Insel, ein Sturm, ein Körper, der zu schnell zu Staub wurde
Die Chemie des Todes von Simon Beckett– Wenn Stille lauter ist als ein Schrei
Knochenkälte von Simon Beckett – Winter, Stille, ein Skelett in den Wurzeln
Biss zum Ende der Nacht von Stephenie Meyer – Hochzeit, Blut, Gesetz: Der Schlussakkord mit Risiken und Nebenwirkungen
Das gute Übel. Samanta Schweblins Erzählband als Zustand der Schwebe
Biss zum Abendrot von Stephenie Meyer – Heiratsantrag, Vampirarmee, Gewitter über Forks