Zur Frankfurter Buchmesse 2024 veröffentlichte der SPIEGEL eine Liste der 100 bedeutendsten deutschsprachigen Prosawerke, die zwischen 1924 und 2024 erschienen sind. Dieser moderne Kanon erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder allgemeingültige Objektivität. Stattdessen spiegelt er die persönlichen Vorlieben und fachlichen Einschätzungen einer Jury aus vier renommierten Literaturkennern. Der SPIEGEL setzt dabei auf einen offeneren Zugang zur Literatur, der bewusst verschiedene Perspektiven einbezieht. Dies steht im Kontrast zu Marcel Reich-Ranickis Kanon von 2002, der den Anspruch auf Vollständigkeit und normative Autorität verfolgte.
Die 100 wichtigsten Werke der letzten 100 Jahre: Clemens Meyer in der SPIEGEL-Auswahl
Die Juroren
Die Auswahl der Werke liegt in den Händen von vier renommierten Experten, die jeweils eigene Schwerpunkte in der Literatur setzen:
- Jan Philipp Reemtsma (71): Gründer der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen gehört "Christoph Martin Wieland: Die Erfindung der modernen deutschen Literatur" (2023).
- Eva Horn (59): Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Wien, die sich auf Themen wie Klimawandel und Anthropozän spezialisiert hat. Ihre aktuelle Publikation "Klima. Eine Wahrnehmungsgeschichte" erscheint 2024.
- Miryam Schellbach (36): Literaturkritikerin und Programmleiterin des Claassen-Verlags. Sie veröffentlichte 2024 "Trotzdem sprechen", ein Buch über feministische Literatur.
- Joseph Vogl (67): Literatur- und Kulturwissenschaftler, bekannt für Werke wie "Kapital und Ressentiment" (2021). Er ist auch Gastprofessor an der Princeton University.
Durch ihre individuellen Perspektiven entstand eine interessante Auswahl der bedeutendsten deutschsprachigen Romane der letzten 100 Jahre.
Von Thomas Mann bis Clemens Meyer
Die Liste deckt ein ganzes Jahrhundert der deutschsprachigen Literatur ab, von der Moderne über den Expressionismus über die Neue Sachlichkeit, die Exilliteratur, die Trümmerliteratur- Kahlschlagliteratur, über die Gruppe 47, die Nachkriegsliteratur über die Postmoderne bis hin zur heutigen Gegenwartsliteratur wurden Werke ausgesucht, die aktuelle gesellschaftliche Themen aufgreifen und sprachlich herausragend umgesetzt wurden. Hier eine Auswahl der herausragenden Titel:
- "Der Zauberberg" von Thomas Mann (1924): Ein Klassiker, der die gesellschaftlichen und existenziellen Fragen der Weimarer Zeit in einem Schweizer Sanatorium reflektiert.
- "Das Schloß" von Franz Kafka (1926): Ein posthum veröffentlichter Roman, der die Absurdität und Unzugänglichkeit bürokratischer Strukturen beleuchtet.
- "Berlin Alexanderplatz" von Alfred Döblin (1929): Ein Meilenstein des modernen Großstadtromans, der den Überlebenskampf eines Mannes im Berlin der Weimarer Republik schildert.
- "Transit" von Anna Seghers (1944): Ein Exilroman, der die Flucht vor dem Nationalsozialismus und das Schicksal von Flüchtlingen thematisiert.
- "Die Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss (1975–1981): Ein monumentales Werk, das Kunst und politischen Widerstand verbindet.
- "Herkunft" von Saša Stanišić (2019): Eine autobiografische Auseinandersetzung mit Identität, Migration und den Krisen Europas.
- "Die Projektoren" von Clemens Meyer (2024): Ein aktueller Roman, der sich mit Nationalismus und deutscher Kulturgeschichte auseinandersetzt.
Die Werke spiegeln nicht nur literarische Vielfalt wider, sondern auch die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche, die Europa im letzten Jahrhundert geprägt haben. Sie zeigen, wie tief die deutschsprachige Literatur auf historische Ereignisse wie den Zweiten Weltkrieg, die Teilung Deutschlands und die Wiedervereinigung reagiert hat.
Der SPIEGEL-Kanon im Vergleich
Im Vergleich zu Marcel Reich-Ranickis Kanon von 2002 ist der SPIEGEL-Kanon offener und weniger hierarchisch. Während Reich-Ranickis Auswahl auf Vollständigkeit und klassische Wertmaßstäbe setzte, spiegelt der SPIEGEL-Kanon eine größere Vielfalt an Perspektiven und Themen wider. Die Liste hebt vor allem die politischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen der letzten 100 Jahre hervor.
Thematische Schwerpunkte
Zentrale historische Ereignisse und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft stehen im Fokus vieler ausgewählter Werke. Der Zweite Weltkrieg, der Nationalsozialismus und die Nachkriegszeit spielen eine Schlüsselrolle. Romane wie Anna Seghers' "Transit" oder Joseph Roths "Hiob" (1930) beschäftigen sich direkt mit den Folgen von Krieg, Exil und der Frage nach individueller und kollektiver Schuld.
Auch die Wiedervereinigung und die deutsche Teilung sind häufige Themen. Clemens Meyers „Die Projektoren“ und Christa Wolfs „Kein Ort. Nirgends“ (1979) befassen sich kritisch mit der deutschen Geschichte und den gesellschaftlichen Spannungen, die diese prägten.
Die Rolle von Frauen und Migranten in der Literatur
Ein auffälliger Aspekt des SPIEGEL-Kanons ist die zunehmende Sichtbarkeit von Autorinnen und migrantischen Stimmen in den letzten Jahrzehnten. Während in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts überwiegend männliche Autoren dominierten, nahm der Anteil an Schriftstellerinnen ab den 1970er Jahren deutlich zu. Werke wie Maxie Wanders „Guten Morgen, du Schöne“ (1977) und Antje Rávik Strubels „Blaue Frau“ (2021) zeigen starke weibliche Stimmen, die sich mit Fragen der Identität, Emanzipation und der Rolle der Frau in einer sich wandelnden Gesellschaft auseinandersetzen.
Auch Autoren mit Migrationshintergrund wie Saša Stanišić oder Fatma Aydemir („Dschinns“, 2022) bereichern die deutschsprachige Literatur durch neue Perspektiven auf Migration, kulturelle Identität und familiäre Wurzeln. Diese Werke zeigen, wie Migration und Globalisierung die Literatur und die Gesellschaft beeinflussen.
Von Experimenten zur Rückkehr des Romans
Die literarischen Formen in der deutschsprachigen Literatur haben sich im Laufe der letzten 100 Jahre stark verändert. In den 1920er und 1930er Jahren dominierten große Gesellschaftsromane wie Döblins „Berlin Alexanderplatz“ und Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“ (1930). In den 1970er Jahren wurden die Erzählformen experimenteller. Peter Weiss' „Die Ästhetik des Widerstands“ kombiniert beispielsweise politische Theorie mit Kunstgeschichte.
In den letzten Jahren zeichnet sich jedoch eine Rückkehr zu groß angelegten Romanprojekten ab. Werke wie Clemens Meyers „Die Projektoren“ greifen erneut die epische Erzähltradition auf, wobei sie historische Themen mit gegenwärtigen gesellschaftlichen Fragen verbinden. Dies zeigt, dass der Roman im 21. Jahrhundert weiterhin eine wichtige Rolle spielt.
Ein moderner Kanon für das 21. Jahrhundert
Der SPIEGEL-Kanon ist ein Spiegelbild der deutschsprachigen Literatur der letzten 100 Jahre. Er beleuchtet die politischen, sozialen und kulturellen Umbrüche dieser Zeit und bietet einen umfassenden Überblick über die bedeutendsten Werke. Von Klassikern wie Thomas Mann bis hin zu zeitgenössischen Autoren wie Clemens Meyer öffnet die Liste den Blick auf vielfältige Perspektiven.
Die deutschsprachige Literatur ist nicht statisch, sondern entwickelt sich kontinuierlich weiter. Sie ist geprägt von Migration, gesellschaftlichen Veränderungen und dem Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Der SPIEGEL-Kanon bietet eine wertvolle Orientierungshilfe für alle, die die deutschsprachige Literatur neu entdecken oder vertiefen möchten. Clemens Meyer steht dabei exemplarisch für die Verbindung von Tradition und Moderne und zeigt, dass die deutsche Literatur auch heute noch lebendig und relevant ist.
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