Ein Roman über Glaube, Macht und Identität „Antichristie“ von Mithu Sanyal: Ein provokativer Roman über Glaube, Macht und Identität

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Antichristie Antichristie Mithu Sanyal Hanser Literaturverlage

Der Roman „Antichristie“, der im September 2024 beim Hanser Verlag erschien, ist ein mutiges literarisches Werk, das sich intensiv mit den Themen Glaube, Macht und Identität auseinandersetzt. Erzählt wird eine vielschichtige Geschichte, die Fiktion und historische Ereignisse geschickt miteinander verwebt. Die Hauptfigur des Romans, Durga, eine deutsch-indische Drehbuchautorin, gerät in ein Netz aus persönlichen und historischen Konflikten, die ihr Leben und ihre Sicht auf die Welt grundlegend verändern.

Durga: Zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Im Mittelpunkt des Romans steht Durga, die nach der indischen tigerreitenden Göttin benannt wurde. Im Jahr 2022 befindet sie sich in London, um an einer Neugestaltung der klassischen Agatha-Christie-Krimis mitzuwirken. Im Zentrum ihrer Arbeit steht die Frage, wie diese Werke aus einer dekolonialen Perspektive neu gedacht werden können. Durga hinterfragt in intensiven Diskussionen, warum berühmte Figuren wie Hercule Poirot nicht auch Schwarz sein könnten und inwiefern klassische Werke koloniale Vorurteile reproduzieren.

Parallel dazu trauert London um den Tod der Königin, während Durga mit dem Verlust ihrer eigenen Mutter Lila kämpft. Lila, eine deutsche Hippie-Frau, die sich zeitlebens für Indiens Unabhängigkeit engagiert hat, hinterlässt in Durgas Leben eine Leere, die sie schwer zu füllen weiß. Die Beziehung zu ihrer Mutter, ihrem Ehemann Jack und ihrer besten Freundin Nena wird in Rückblenden beleuchtet und gibt dem Leser tiefe Einblicke in Durgas persönliche Geschichte und innere Konflikte. Ihre Rolle als Drehbuchautorin in einer von kolonialen Narrativen durchdrungenen Welt spiegelt ihre eigenen Auseinandersetzungen mit Identität, Herkunft und Familie wider.

Ein Zeitsprung in die koloniale Vergangenheit

Während Durga sich noch mit der Trauer um ihre Mutter auseinandersetzt und in ihrem aktuellen Projekt kämpferische Diskussionen über Dekolonisierung führt, passiert etwas Unerwartetes: Sie wird ins Jahr 1906 katapultiert und findet sich im Körper eines jungen indischen Mannes namens Sanjeev wieder. Diese drastische Verschiebung von Zeit und Raum bringt Durga in eine entscheidende historische Phase – das antikoloniale Indien in Großbritannien.

Mit ihrem modernen Wissen und ihren eigenen Erinnerungen ausgestattet, taucht Durga in die Welt des India House ein. Das India House war eine Unterkunft für indische Studenten in London und gleichzeitig ein Zentrum des antikolonialen Widerstands. Hier treffen sich Aktivisten und Revolutionäre, die gegen die britische Kolonialherrschaft kämpfen. Besonders faszinierend ist die Begegnung mit Vinayak Savarkar, einem bedeutenden indischen Revolutionär, der zu seiner Zeit genauso bekannt war wie Gandhi. Zwischen den beiden entspinnt sich ein intensiver Dialog über gewaltfreien Widerstand und die Legitimität von Gewalt im Kampf gegen Unterdrückung.

Durga, die nun im Körper von Sanjeev lebt, wird nicht nur Zeugin der antikolonialen Bewegung, sondern auch eine aktive Teilnehmerin daran. Sie beginnt, die Menschen im India House – ihre Mitstreiter im Kampf gegen das koloniale Regime – zunehmend ins Herz zu schließen. Die Spannungen und Hoffnungen dieser revolutionären Gemeinschaft werden lebendig geschildert und lassen die Leser hautnah an den Konflikten und Widersprüchen teilhaben, mit denen die antikolonialen Kämpfer konfrontiert sind.

Eine Revolution mit Krimi-Elementen: Sherlock Holmes und die Ermittlungen

Die Handlung des Romans nimmt eine spannende Wendung, als der britische Geheimdienstchef Curzon Wyllie aus einem verschlossenen Raum im India House verschwindet. Wyllie war eine zentrale Figur im britischen Geheimdienst, der die antikolonialen Aktivitäten der Inder in Großbritannien überwachte. Nach seinem Verschwinden wird der Revolutionär Madan Lal Dhingra, eine von Durgas Mutter verehrte Figur, der Ermordung verdächtigt. Dieser Verdacht löst eine Kette von Ereignissen aus, die Durga tief in die Ermittlungen verwickeln.

Besonders faszinierend wird es, als Durga in ihrer neuen Rolle Unterstützung von einer unerwarteten Seite erhält: Sherlock Holmes, der berühmte Detektiv, tritt auf den Plan. Seine messerscharfen Beobachtungen und logischen Schlussfolgerungen helfen Durga, sich in der undurchsichtigen Welt der kolonialen Intrigen und politischen Machenschaften zurechtzufinden. Dabei gerät Durga nicht nur in die Rolle der Ermittlerin, sondern muss auch ihre eigenen inneren Kämpfe und moralischen Dilemmata austragen.

Glaube, Macht und die Suche nach Identität

Die zentralen Themen des Romans – Glaube, Macht und Identität – sind allgegenwärtig. Durga befindet sich in einem ständigen Spannungsfeld zwischen ihrem persönlichen Verlust, ihrer Arbeit an der Dekolonisierung klassischer Literatur und den historischen Kämpfen der antikolonialen Bewegung. Ihre Reisen zwischen den Zeiten und Identitäten spiegeln den inneren Konflikt wider, der viele postkoloniale Subjekte prägt: Wie findet man seine eigene Stimme in einer Welt, die von kolonialen Erzählungen und Machtstrukturen geprägt ist?

Der Glaube spielt in diesem Kontext eine besondere Rolle. In „Antichristie“ wird der Glaube nicht nur als spirituelle oder religiöse Überzeugung thematisiert, sondern auch als politisches Instrument. Die Revolutionäre im India House glauben an ihre Vision einer freien, postkolonialen Welt, doch die Methoden, mit denen sie diese Vision erreichen wollen, sind unterschiedlich. Savarkar plädiert für den bewaffneten Widerstand, während andere eher auf gewaltfreie Mittel setzen. Diese Spannungen ziehen sich durch den gesamten Roman und reflektieren die Frage, wie Macht und Widerstand miteinander verwoben sind.

Eine dystopische Gegenwart und historische Rückblicke

Trotz der historischen Rückblicke und der Schilderung der antikolonialen Bewegung ist „Antichristie“ kein reiner historischer Roman. Die dystopische Gegenwart von 2022, in der Durga lebt, ist eine Welt, in der sich die gesellschaftlichen und politischen Spannungen weiter zugespitzt haben. Religiöse und politische Institutionen gewinnen zunehmend an Einfluss, und die alten Machtstrukturen, die Durga und ihre Mitstreiter in der Vergangenheit zu bekämpfen versuchen, sind in der modernen Welt präsenter denn je.

Durga steht zwischen diesen beiden Welten – der Vergangenheit, in der sie die revolutionären Kämpfer des India House begleitet, und der Gegenwart, in der sie sich für eine dekoloniale Neugestaltung klassischer Werke einsetzt. Diese duale Erzählstruktur verleiht dem Roman eine faszinierende Tiefe, da sie es ermöglicht, die Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu erforschen und die Frage zu stellen, ob sich die Gesellschaft wirklich verändert hat oder ob die alten Machtstrukturen immer noch fest verankert sind.

Stil und Erzählweise: Ein packender, aber manchmal belehrender Ton

Der Roman besticht durch eine vielschichtige und komplexe Handlung, die sowohl historische Ereignisse als auch fiktive Elemente miteinander verknüpft. Die Verknüpfung der verschiedenen Zeitebenen und Erzählstränge ist gekonnt und sorgt für eine tiefe Reflexion über die Themen Glaube, Macht und Identität. Jedoch gibt es Momente, in denen der Roman etwas belehrend wirkt. Die Leser*innen werden immer wieder erzieherisch durch die Handlung geführt, was den Lesefluss mitunter stört. Diese belehrende Art, die manchmal wie eine moralische Handreichung wirkt, kann etwas anstrengend sein und den Lesegenuss trüben.


Die Autorin

Mithu Sanyal wurde 1971 in Düsseldorf geboren und ist eine renommierte Kulturwissenschaftlerin, Autorin, Journalistin und Kritikerin. Im Jahr 2009 veröffentlichte sie ihr Sachbuch "Vulva. Das unsichtbare Geschlecht", in dem sie die kulturelle und historische Bedeutung der Vulva untersucht. Ihr folgendes Werk, "Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens" aus dem Jahr 2016, behandelt die gesellschaftlichen und rechtlichen Dimensionen von Sexualdelikten.

Im Jahr 2021 erschien ihr erster Roman "Identitti" beim Hanser Verlag. Das Buch wurde für die Shortlist des Deutschen Buchpreises nominiert und mit dem Literaturpreis Ruhr sowie dem Ernst-Bloch-Preis 2021 ausgezeichnet. "Identitti" thematisiert Identitätsfragen und kulturelle Aneignung und hat breite Diskussionen angeregt.

Mithu Sanyal ist eine wichtige Stimme in Debatten über Geschlecht, Identität und postkoloniale Theorien und trägt mit ihren Werken maßgeblich zum kulturellen Diskurs bei.




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