Ronya Othmann – „Vierundsiebzig“: Ein packender Roman über Identität, Trauma und kulturelles Erbe
Ronya Othmann präsentiert mit „Vierundsiebzig“ einen Roman, erschienen beim Rowohlt Buchverlag, der mit emotionaler Tiefe und klarer Präzision die Themen Identität, Migration und das Streben nach Zugehörigkeit beleuchtet. „Vierundsiebzig“ steht auf der Shortliest für den Deutschen Buchpreis 2024. Nach dem Erfolg ihres Debüts „Die Sommer“ zeigt die Autorin erneut, wie kraftvoll sie existenzielle Themen zum Leben erwecken kann. Auch in ihrem neuen Werk widmet sie sich mit beeindruckender Eindringlichkeit und Klarheit der Frage, wie persönliche und kulturelle Wurzeln unser Selbstverständnis prägen.
Die Suche nach der eigenen Herkunft
Im Zentrum von „Vierundsiebzig“ steht Leyla, eine junge Frau mit jesidischen Wurzeln, die in Deutschland aufgewachsen ist und zwischen zwei Welten hin- und hergerissen lebt: auf der einen Seite ihr modernes Leben in Deutschland, auf der anderen die tief verwurzelte Geschichte ihrer Familie aus dem Nahen Osten. Je älter Leyla wird, desto stärker fühlt sie sich zur Herkunft ihrer Familie hingezogen – eine Suche, die sie nicht nur geografisch, sondern auch in ihrem Inneren antreibt. Sie reist in den Irak, um die jesidische Kultur und Geschichte ihrer Vorfahren zu verstehen, während die titelgebende Zahl „74“ symbolisch für die vielen Vernichtungsfeldzüge steht, die die Jesiden in der Geschichte durchleben mussten.
Othmann gelingt es, Leylas sehr persönliche Suche auf eine universelle Ebene zu heben. Der Roman reflektiert über die Frage, wie stark unsere Herkunft unsere Identität bestimmt. Leylas innere Zerrissenheit zwischen den Anforderungen und Verlockungen des westlichen Lebens und den Traditionen und Traumata ihrer Familie ist der Kernkonflikt, den die Autorin mit großer Feinfühligkeit und Tiefe aufarbeitet.
Trauma und das Erbe der Vergangenheit
Ein wiederkehrendes Thema in „Vierundsiebzig“ ist das kollektive Trauma der Jesiden, das wie ein schwerer Schatten über Leylas Familie liegt und sich tief in ihre Identität eingeschrieben hat. Die Geschichte der Jesiden ist eine von Gewalt, Verfolgung und Flucht geprägte, und Othmann zeigt eindrucksvoll, wie sehr diese vergangenen Traumata die nachfolgenden Generationen prägen. Für Leyla ist die Auseinandersetzung mit dem Schmerz ihrer Vorfahren nicht nur ein historisches, sondern vor allem ein emotionales Thema, das sie auf ihrer Suche nach Identität und Zugehörigkeit immer wieder herausfordert.
Besonders stark ist der Roman, weil Othmann es schafft, diese historischen Wunden in den Alltag ihrer Figuren zu integrieren. Obwohl Leyla in Deutschland aufgewachsen ist, trägt sie den Schmerz und die Ängste ihrer Eltern und Großeltern in sich – eine Last, die es ihr schwer macht, sich in der westlichen Welt vollständig zu Hause zu fühlen.
Identität zwischen zwei Welten
Leyla lebt in einem Spannungsfeld zwischen zwei Welten, was den zentralen Konflikt des Romans darstellt: Sie fühlt sich in Deutschland fremd, gleichzeitig ist sie im Irak ebenfalls eine Außenseiterin. Ronya Othmann fängt dieses Gefühl der Zerrissenheit meisterhaft ein. Sie zeigt, wie schwierig es für Menschen mit Migrationshintergrund sein kann, zwischen den Kulturen zu balancieren, ohne dabei die eigene Identität zu verlieren. Leylas Kampf, eine Brücke zwischen ihren jesidischen Wurzeln und ihrem westlichen Leben zu finden, ist der emotionale Mittelpunkt der Geschichte.
Sprache und Stil
Othmann überzeugt durch eine klare, fast schon nüchterne Sprache, die der emotionalen Tiefe des Romans noch mehr Kraft verleiht. Ihre Worte sind präzise und wirken oft direkt, ohne dabei ihre poetische Qualität zu verlieren. Diese Klarheit und Eindringlichkeit zieht den Leser in Leylas Innenwelt hinein und lässt ihn die Zerrissenheit, Unsicherheit und den Schmerz der Protagonistin hautnah miterleben.
Ein literarischer Beitrag zur Gegenwartsliteratur
Mit „Vierundsiebzig“ hat Ronya Othmann nicht nur einen Roman über die jesidische Kultur und Geschichte geschrieben, sondern auch einen wichtigen Beitrag zur deutschen Gegenwartsliteratur geleistet. Sie greift Themen wie Migration, Identität und das Erbe von Traumata auf – Themen, die in einer globalisierten Welt zunehmend an Bedeutung gewinnen. Othmanns Roman spricht nicht nur die jesidische Diaspora an, sondern alle, die sich mit Fragen der Herkunft und der Suche nach Zugehörigkeit auseinandersetzen.
Ein intensives Leseerlebnis
„Vierundsiebzig“ ist ein eindringlicher und kraftvoller Roman, der zeigt, wie tief die Wunden der Vergangenheit in die Gegenwart reichen und wie schwer es ist, sich von diesem Erbe zu befreien. Leylas Geschichte berührt und bleibt lange im Gedächtnis. Für Leserinnen und Leser, die sich mit den Themen Identität, Migration und dem schwierigen Balanceakt zwischen verschiedenen Welten beschäftigen, ist dieses Buch ein unverzichtbares Werk der aktuellen Literatur.
Autorin
Ronya Othmann, geboren 1993 in München als Tochter einer deutschen Mutter und eines kurdisch-êzîdischen Vaters, ist eine vielseitige Autorin, die Lyrik, Prosa und Essays schreibt und zudem als Journalistin tätig ist. Für ihr Werk wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Zu ihren Ehrungen zählen der Lyrik-Preis des Open Mike, der MDR-Literaturpreis und der Caroline-Schlegel-Förderpreis für Essayistik. Ihr Debütroman Die Sommer brachte ihr 2020 den Mara-Cassens-Preis ein. Ihr Gedichtband die verbrechen (2021) wurde mit dem Orphil-Debütpreis, dem Förderpreis des Horst-Bienek-Preises sowie dem Horst Bingel-Preis 2022 gewürdigt. Mit Vierundsiebzig, ihrem zweiten Roman, wurde sie für den Deutschen Buchpreis nominiert und erhielt den Düsseldorfer Literaturpreis 2024 sowie den Erich-Loest-Preis 2025.