Klassiker der deutschen Kinderliteratur Else Urys „Nesthäkchen“-Reihe: Eine verlorene Zukunft und das Schweigen über die Autorin

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Else Urys Nesthäkchen-Reihe zählt zweifellos zu den Klassikern der deutschen Kinderliteratur. Die zehnbändige Geschichte über Annemarie Braun, das lebensfrohe „Nesthäkchen“ aus einer wohlhabenden Berliner Familie, begleitet Leserinnen und Leser von ihrer Kindheit bis ins hohe Alter. Doch der Charme dieser Bücher, die eine idyllische bürgerliche Welt der Ordnung, Liebe und Stabilität vermitteln, ist untrennbar mit der Tragödie des Lebens ihrer Autorin und der historischen Realität verbunden, die diese heile Welt zerschlug.

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Die Welt von „Nesthäkchen“: Eine utopische Idylle

Die Nesthäkchen-Bücher erzählen die Geschichte von Annemarie Braun, einem frechen, aber liebenswerten Kind, das behütet in einer wohlhabenden Familie aufwächst. Schon im ersten Band, „Nesthäkchen und ihre Puppen“, wird das Bild einer geordneten, stabilen Gesellschaft entworfen, in der die Werte von Familie und Zusammenhalt an erster Stelle stehen: „In unserem Haus ist es immer so friedlich und schön.“ Ury schafft hier eine Welt, die durch die Herausforderungen der ersten Schuljahre und sogar durch den Ersten Weltkrieg hindurch intakt bleibt.

In „Nesthäkchen und der Weltkrieg“ wird zwar die Kriegszeit thematisiert, doch der Fokus bleibt auf dem persönlichen Wachstum Annemaries und den familiären Beziehungen. Der Krieg bleibt im Hintergrund, die Familie Braun scheint von den schlimmsten Entbehrungen verschont. Diese Darstellung der Stabilität und des persönlichen Glücks selbst in schwierigen Zeiten spiegelte die Hoffnung vieler Leserinnen und Leser, dass die Normalität wiederhergestellt werden könnte. Doch diese Hoffnung, die Ury ihren Figuren schenkt, war in der Realität nicht tragfähig.

Eine Zukunft, die es nie gab

Die Bücher nehmen eine tragische Wendung, wenn man sie im historischen Kontext betrachtet. Annemaries unbeschwerte Kindheit, ihre friedliche Jugend und ihr späteres Leben als liebevolle Ehefrau und Mutter zeichnen das Bild einer Zukunft, die durch die nationalsozialistische Gewaltherrschaft nie Realität werden konnte. Der letzte Band, „Nesthäkchen im weißen Haar“, beschreibt Annemarie als glückliche Großmutter, die auf ein erfülltes Leben zurückblickt. Doch diese bürgerliche Zukunft, die Ury beschreibt, wurde nicht nur für Annemarie unerreichbar, sondern auch für Millionen Menschen, die durch den Nationalsozialismus und den Holocaust verfolgt und ermordet wurden. Else Ury selbst war eine dieser Menschen.

Ihre Vision einer friedlichen, wohlgeordneten Gesellschaft endete abrupt, als sie 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde. Während ihre Protagonistin in den Büchern den Krieg überstand und eine sichere Zukunft genoss, wurde Urys eigene Zukunft brutal ausgelöscht. Sie schrieb über eine Welt, die sie selbst nicht erleben durfte. Dies verleiht den Büchern im Nachhinein eine bittere Ironie: Die stabile bürgerliche Ordnung, die Ury in ihren Werken so liebevoll zeichnete, wurde durch die Gewalt des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg unwiderruflich zerstört.

Nachkriegszeit: Die Popularität der „Nesthäkchen“-Bücher

In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten die Nesthäkchen-Bücher eine erstaunliche Renaissance. Gerade in der Zeit des Wiederaufbaus und der Suche nach Normalität nach den Gräueln des Krieges bot Urys idealisierte Darstellung einer harmonischen bürgerlichen Familie vielen Leserinnen und Lesern Trost. Die Bücher vermittelten ein Bild von Beständigkeit und Geborgenheit, das in der zerstörten Nachkriegswelt verloren schien. Die Figuren in Urys Büchern durchlebten Krisen, doch sie überstanden diese immer mit Mut, Optimismus und dem festen Glauben an die Familie als Fundament des Lebens. Diese Botschaften trafen den Nerv der Nachkriegszeit, in der viele Menschen verzweifelt nach einem Anker in der unsicheren Gegenwart suchten.

Doch trotz der ungebrochenen Beliebtheit der Bücher wurde lange Zeit über die tragische Geschichte ihrer Autorin kaum gesprochen. Die Nesthäkchen-Reihe fand ihren Weg zurück in die deutschen Bücherregale, doch Else Ury, die den Holocaust nicht überlebte, wurde in Vergessenheit gedrängt. Erst in den 1980er Jahren begann man, sich wieder mit ihrem Leben und ihrem Schicksal auseinanderzusetzen. Es ist ein beschämendes Kapitel der deutschen Nachkriegsliteraturgeschichte, dass eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen ihrer Zeit – eine Frau, die Millionen Kinder mit ihren Geschichten berührte – über Jahrzehnte hinweg nicht als Opfer des Nationalsozialismus gewürdigt wurde.

Das Schweigen über Else Ury

Die Tatsache, dass Urys Bücher in den Nachkriegsjahren so beliebt waren, aber über die Autorin selbst und ihr tragisches Schicksal kaum gesprochen wurde, ist ein Spiegel der Art und Weise, wie die deutsche Gesellschaft lange Zeit mit der Aufarbeitung des Holocaust umging. Der Fokus lag auf dem Wiederaufbau, dem Wunsch nach Vergessen und dem Drang nach einer Rückkehr zur Normalität. Urys Werk schien in dieses Bedürfnis zu passen: Es bot eine heile Welt, ohne die schmerzhaften Wunden der Realität zu thematisieren. Dass die Autorin selbst eine jüdische Frau war, die im Holocaust ermordet wurde, wurde hingegen übersehen.

Dieses Schweigen ist besonders schmerzlich, weil es zeigt, wie sehr die Gesellschaft der Nachkriegszeit versuchte, das Unbequeme und Schmerzhafte auszublenden. Die Nesthäkchen-Bücher wurden zu einem Mittel der Eskapismus, aber das Bewusstsein darüber, dass ihre Schöpferin eine von Millionen jüdischen Opfern des Holocaust war, wurde lange ignoriert.

Ein bittersüßes Vermächtnis

Else Urys Nesthäkchen-Reihe ist mehr als nur eine Serie liebenswerter Kinderbücher. Sie ist das Zeugnis einer verlorenen Zukunft – sowohl für die Figuren in der Geschichte als auch für ihre Autorin. Die Vision einer friedlichen, stabilen bürgerlichen Gesellschaft, die Ury für Annemarie Braun entwirft, ist eine Utopie, die durch die Verbrechen des Nationalsozialismus zerstört wurde. Die Beliebtheit der Bücher in der Nachkriegszeit zeigt, wie stark der Wunsch nach einer Rückkehr zur Normalität war, doch das Schweigen über das Schicksal der Autorin wirft ein dunkles Licht auf die Art und Weise, wie die deutsche Gesellschaft lange mit ihrer Vergangenheit umging.

Heute, mit dem Wissen um Else Urys tragisches Schicksal, erhalten ihre Bücher eine tiefere, melancholische Bedeutung. Sie sind nicht nur ein nostalgischer Blick auf eine vergangene Welt, sondern auch ein Mahnmal für die zerstörten Leben und Hoffnungen von Millionen Menschen, die niemals die Zukunft erleben durften, die sie sich erträumt hatten.


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