Anna Seghers: Eine Stimme für Gerechtigkeit und Solidarität
Anna Seghers, geboren als Netty Reiling am 19. November 1900 in Mainz, war eine der bedeutendsten deutschen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. Sie wuchs in einer jüdischen Familie auf, die Bildung und Kultur schätzte; ihr Vater betrieb eine Kunst- und Antiquitätenhandlung, ihre Mutter entstammte einer angesehenen Frankfurter Kaufmannsfamilie. Schon früh zeigte sich Seghers’ Interesse an Literatur und Kunst, was sie 1920 zu einem Studium der Kunstgeschichte in Heidelberg führte. Dort lernte sie den ungarischen Emigranten und späteren Marxisten Laszlo Radvanyi kennen, den sie 1925 heiratete. Gemeinsam zogen sie nach Berlin, wo ihre Kinder Pierre (1926–2021) und Ruth (1928–2009) geboren wurden.
Ein politischer und literarischer Durchbruch in den 1920er Jahren
In einer männlich dominierten Literaturlandschaft schaffte es Seghers bereits 1928, mit ihrer Erzählung Aufstand der Fischer von St. Barbara Aufmerksamkeit zu erlangen. Diese Geschichte, die von einer Fischerrevolte gegen soziale Ungerechtigkeit handelt, brachte ihr den Kleistpreis und markierte den Beginn ihres politischen Engagements in der Literatur. In diesem Jahr trat sie auch der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) bei und wurde Mitglied des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. In den folgenden Jahren reiste sie auf internationale Kongresse und veröffentlichte Werke, die sich sozialkritisch und antifaschistisch positionierten. Ihr 1932 erschienener Roman Die Gefährten machte sie zur literarischen Stimme des politischen Widerstands und legte den Grundstein für ihren Ruf als engagierte Schriftstellerin.
Flucht und Exil im Paris der 1930er Jahre
Die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 zwang Seghers, ihre Heimat zu verlassen. Ihre Bücher wurden verboten, und sie floh zunächst in die Schweiz und dann nach Frankreich. In Paris lebte sie gemeinsam mit ihrem Mann und den Kindern und engagierte sich weiterhin im antifaschistischen Widerstand. Seghers wurde Redaktionsmitglied der Neuen Deutschen Blätter, einer Exilzeitschrift, die den literarischen und politischen Austausch unter verfolgten deutschen Schriftstellern förderte. Diese Jahre im Pariser Exil prägten sie zutiefst, sowohl als Frau und Mutter, die für das Überleben ihrer Familie kämpfte, als auch als Jüdin und Kommunistin, die mit den Schrecken der nationalsozialistischen Verfolgung konfrontiert war. 1940 wurde ihr Mann Laszlo in Frankreich interniert, und Seghers flüchtete mit den beiden Kindern ins unbesetzte Südfrankreich. Schließlich gelang es der Familie, 1941 Marseille zu verlassen und über Martinique und die USA nach Mexiko zu emigrieren.
Mexiko: Literarisches Schaffen und antifaschistisches Engagement
In Mexiko-Stadt setzte Seghers ihr literarisches und politisches Engagement fort. Sie wurde Präsidentin des Heinrich-Heine-Clubs, einer bedeutenden Anlaufstelle für deutsche Exilanten, und schrieb regelmäßig für die Zeitschrift Freies Deutschland, die sich dem antifaschistischen Widerstand widmete. Seghers schuf in dieser Zeit einige ihrer wichtigsten Werke. 1942 veröffentlichte sie ihren berühmten Roman Das siebte Kreuz, der in Mexiko auf Deutsch und in den USA auf Englisch erschien und die Geschichte eines KZ-Häftlings erzählt, dem die Flucht gelingt. Auf seiner Flucht trifft er auf Menschen, die ihm aus Menschlichkeit und Mitgefühl helfen. Dieses Werk prägte Seghers’ Ruf als große Erzählerin des Widerstands und wurde 1944 von Fred Zinnemann in Hollywood verfilmt.
Auch ihr Roman Transit, geschrieben in den Jahren des Exils, ist ein beeindruckendes Werk über die Erfahrungen der Flucht und des Exils. Transit beschreibt das Leben der Flüchtlinge in Marseille während des Zweiten Weltkriegs. Der namenlose Protagonist, der dem Konzentrationslager entkommen ist, wartet verzweifelt auf seine Ausreisegenehmigung und erfährt die bedrückende Realität eines Lebens in der „Zwischenwelt“ des Wartens und der Ungewissheit. Transit ist mehr als ein literarischer Bericht über die Flüchtlingskrise – es ist ein emotional packendes Werk, das die existenzielle Unsicherheit und die Entfremdung im Exil thematisiert. Dieser Roman ist eine klare Leseempfehlung: Transit hat bis heute eine ungebrochene Aktualität und eröffnet eindringliche Perspektiven auf die Themen Flucht, Identität und menschliche Solidarität.
Rückkehr nach Deutschland und Einfluss auf den kulturellen Aufbau der DDR
Nach Kriegsende kehrte Anna Seghers 1947 nach Deutschland zurück. Sie ließ sich in der Sowjetischen Besatzungszone nieder und wurde schnell zu einer prägenden Persönlichkeit im kulturellen Aufbau der DDR. Zunächst lebte sie im West-Berliner Stadtteil Zehlendorf, bevor sie nach Ost-Berlin umzog. Dort wurde sie zur Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes der DDR gewählt und engagierte sich aktiv für den Aufbau der sozialistischen Kultur. Ihre Rolle als Frau in einer führenden kulturellen Position war in dieser Zeit außergewöhnlich und machte sie zu einem Symbol für politisch engagierte Intelligenz, die für Gerechtigkeit und Solidarität eintrat. Im selben Jahr wurde ihr der Georg-Büchner-Preis verliehen, und auf dem ersten Deutschen Schriftstellerkongress sprach sie über die Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft.
Anerkennung und ideologische Spannungen in den 1950er-Jahren
Die 1950er-Jahre brachten Seghers nationalen und internationalen Einfluss sowie ideologische Herausforderungen. Sie erhielt mehrfach den Nationalpreis der DDR und vertrat die DDR auf internationalen Friedenskongressen, darunter Delegationen nach China und in die Sowjetunion. Dennoch stand sie im Spannungsfeld zwischen ideologischer Loyalität und persönlicher Verantwortung. Während des Schauprozesses gegen Walter Janka, den Leiter des Aufbau Verlags, setzte sich Seghers für Janka ein, blieb jedoch erfolglos und veranlasste lediglich eine Resolution Berliner Schriftsteller, die ihn entlasten sollte. Obwohl sie oft wegen ihres Schweigens zu politischen Konflikten und ihrer Loyalität zur Partei kritisiert wurde, zeigte Seghers in ihrem Einfluss hinter den Kulissen stets ein individuelles Engagement, das ihr wichtig war.
Späte Jahre und literarisches Vermächtnis
In den 1960er- und 1970er-Jahren setzte Seghers ihre literarische Arbeit fort und veröffentlichte Werke wie Das Licht auf dem Galgen (1961) und Die Kraft der Schwachen (1965). Sie befasste sich weiter mit den Aufgaben des Schriftstellers in der Gesellschaft und diskutierte auf Konferenzen über die moralische Verantwortung der Literatur. In den 1970er-Jahren erhielt sie zahlreiche Ehrungen, darunter die Ehrenbürgerschaft von Berlin (Ost) und der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. 1978 trat sie als Präsidentin des Schriftstellerverbandes zurück und wurde zur Ehrenpräsidentin ernannt. Ihr letztes Buch, Drei Frauen aus Haiti, erschien 1980 und thematisierte Frauenleben und gesellschaftliche Unterdrückung.
Tod und Vermächtnis
Anna Seghers verstarb am 1. Juni 1983 in Berlin und wurde auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in einem Ehrengrab beigesetzt. Ihr Werk und ihr politischer Einsatz hinterlassen ein bedeutendes Vermächtnis. Seghers setzte sich zeit ihres Lebens für Solidarität und Gerechtigkeit ein und trat als eine der wenigen Frauen in einer politisch und literarisch einflussreichen Rolle hervor. Sie galt als Pionierin für Frauen im kulturellen Leben und als Ikone der antifaschistischen Literatur. Ihre Erzählungen, die existenzielle Fragen über Menschlichkeit, Identität und Exil aufwerfen, sind bis heute relevant und regen zum Nachdenken an. Besonders Transit bleibt ein zeitloses Werk, das von den komplexen Erfahrungen der Flucht erzählt und die menschliche Widerstandskraft angesichts von Entfremdung und Hoffnungslosigkeit aufzeigt.
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