Bücher und Zensur Die Rückkehr der Zensur: Warum Bücher heute wieder unter Beschuss stehen

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Bücherturm Bücherturm Lesen bildet. DALLE

Bücher waren schon immer mehr als nur bedrucktes Papier – sie sind Träger von Ideen, Vermittler von Wissen und oft auch Katalysatoren für gesellschaftliche Veränderungen. In der Vergangenheit wurden sie jedoch auch als Bedrohung für bestehende Machtstrukturen und konservative Werte gesehen.

Dies führte zu Zensur, Verboten und sogar Bücherverbrennungen. Heute, in einer Zeit, in der die freie Meinungsäußerung als fundamentales Recht gilt, erleben wir eine beunruhigende Renaissance der Zensur, insbesondere in demokratischen Ländern. Besonders in den USA ist ein drastischer Anstieg der sogenannten "Book Bans" zu verzeichnen. Doch auch andere Teile der Welt, darunter die Türkei, Hongkong und Russland, verzeichnen zunehmend Versuche, unliebsame Literatur zu verbieten oder zu zensieren.

In den meisten westlichen Ländern, wie etwa den USA, bedeutet ein "Book Ban" in der Regel, dass ein bestimmtes Buch aus Schulen, Bibliotheken oder lokalen Regalen entfernt wird. Das Buch wird dadurch jedoch nicht grundsätzlich verboten oder illegal. Man kann es weiterhin in Buchhandlungen, online oder in anderen Bibliotheken erwerben und besitzen.

In Deutschland ist die Lage anders: Hier können Bücher, die gegen Gesetze wie das Verbot von verfassungsfeindlicher Propaganda oder volksverhetzenden Inhalten verstoßen, vollständig verboten werden. Solche Verbote umfassen nicht nur den Verkauf und die Verbreitung, sondern oft auch den Besitz dieser Bücher, was sie wesentlich schwerer zugänglich macht als in Ländern, in denen ein "Book Ban" lediglich eine lokale Einschränkung darstellt.

Die beunruhigende Entwicklung der "Book Bans" in den USA

Die Vereinigten Staaten, ein Land, das traditionell als Verfechter der Meinungsfreiheit gilt, sieht sich einem wachsenden Problem der Zensur gegenüber. Laut der American Library Association (ALA) stieg die Anzahl der angegriffenen Bücher im Jahr 2023 um satte 92 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Dieser dramatische Anstieg hat nicht nur die Aufmerksamkeit von Bildungsinstitutionen und Menschenrechtsorganisationen erregt, sondern auch die globale Öffentlichkeit alarmiert.

Besonders betroffen sind Bücher, die sich mit Themen wie Rassismus, Sexualität und Geschlechteridentität auseinandersetzen. Ein prominentes Beispiel ist das autobiografische Comic "Gender Queer" von Maia Kobabe, das als das "meist verbotene Buch Amerikas" gilt. In der Schweiz ist dieses Buch mit einer Altersempfehlung ab 16 Jahren versehen, doch in den USA wurde es in vielen Schulbezirken aus Bibliotheken und Lehrplänen verbannt.

Weitere betroffene Werke sind die Biografie von Malcolm X und "The Handmaid’s Tale" von Margaret Atwood, ein dystopischer Roman, der eine Zukunft beschreibt, die von Verboten und Unterdrückung geprägt ist.

In mehreren US-Bundesstaaten, darunter Florida, können nicht nur Bildungseinrichtungen, sondern auch Privatpersonen Bücher beanstanden und deren Entfernung aus öffentlichen Bibliotheken fordern. Dies betrifft alle Schulstufen, vom Kindergarten bis hin zum Abschlussjahr, in dem die Schüler 18 Jahre alt werden.

Obwohl diese Bücher weiterhin käuflich zu erwerben sind, haben diese Zensurmaßnahmen weitreichende Folgen. Für Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Verhältnissen, die auf öffentliche Bibliotheken angewiesen sind, kommt dies einem De-facto-Verbot gleich.

Die Auswirkungen auf das literarische Schaffen und die Gesellschaft

Die Zensur von Büchern hat nicht nur unmittelbare Auswirkungen auf den Zugang zu Wissen und Ideen, sondern beeinflusst auch die literarische Produktion. Autoren von Kinder- und Jugendbüchern sind oft auf Lesungen an Schulen und den Verkauf ganzer Klassensätze angewiesen.

Wenn bestimmte Themen wie Rassismus, Geschlecht und Sexualität zunehmend beanstandet werden, besteht die Gefahr, dass Autoren und Verlage aus Angst vor Zensur und finanziellen Einbußen diese Themen meiden. Dies könnte zu einer Verarmung der literarischen Landschaft führen, in der wichtige Perspektiven und Geschichten unterrepräsentiert bleiben.

PEN America, eine Organisation, die sich weltweit für die Freiheit des Schreibens einsetzt, hat festgestellt, dass insbesondere Bücher von Frauen, People of Color und Mitgliedern der LGBT-Gemeinschaft häufig von Zensur betroffen sind. Diese Bücher, die oft lange um einen Platz im Regal kämpfen mussten, werden nun erneut angegriffen, was die Sichtbarkeit und Anerkennung von marginalisierten Gruppen weiter erschwert.

Ein Beispiel, das die Absurdität der aktuellen Zensurwelle verdeutlicht, ist der Fall des Autors Alan Gratz. Sein Kinderbuch "Ban This Book", das die Verbannung von Büchern aus Schulen thematisiert, wurde im Sommer 2023 im Schulbezirk Indian River in Florida tatsächlich aus den Regalen entfernt.

Die Begründung lautete, dass das Buch zur Rebellion anstachle – eine ironische Wendung in einer Zeit, in der der Kampf um freie Meinungsäußerung und Zugang zu Wissen intensiver denn je geführt wird.

Globale Zensur: Ein wachsendes Phänomen

Die USA sind nicht das einzige Land, das von einer neuen Welle der Zensur betroffen ist. Weltweit sehen sich Autoren, Verleger und Leser zunehmenden Einschränkungen ausgesetzt. In der Türkei zum Beispiel, wo Präsident Recep Tayyip Erdogan einmal sagte, dass "manche Bücher gefährlicher als Bomben" seien, ist die Zahl der verbotenen Bücher in den letzten Jahren stark gestiegen.

Besonders Werke, die das Leben und Leiden der Kurden thematisieren, stehen im Fokus der Zensur. Der preisgekrönte Autor Yavuz Ekinci, dessen Bücher auf Englisch, Deutsch und Kurdisch übersetzt wurden, erlebt in seinem Heimatland, dass seine Werke konfisziert werden.

Hongkong Zensur

Auch in Hongkong hat die Zensur seit der Einführung des umstrittenen Gesetzes zum Schutz der nationalen Sicherheit im Jahr 2020 zugenommen. Eine Untersuchung im Mai 2023 ergab, dass rund 40 Prozent der Bücher, die politische Themen behandeln, aus den öffentlichen Bibliotheken entfernt wurden. Besonders betroffen sind Werke, die sich mit dem Tiananmen-Massaker von 1989 befassen. Die Nachrichtenplattform "Photon Media" stellte fest, dass von den zuvor 149 Büchern, die dieses Ereignis thematisierten, nur drei in den Bibliotheken verbleiben durften.

Russland Zensur

In Russland zeigt sich die Zensur in besonders scharfer Form. Trotz einer Verfassung, die Zensur verbietet, werden Bücher, die das militärische Vorgehen der Regierung kritisieren, systematisch unterdrückt. Autoren wie Michail Schischkin, die sich gegen die Annexion der Krim aussprachen, wurden in Moskau auf Plakaten als "Verräter" dargestellt.

Noch besorgniserregender ist der Fall des Autors Dmitri Bykow, der einem Giftanschlag zum Opfer fiel – ein extremes Beispiel für die Gefahren, denen kritische Stimmen in autoritären Regimen ausgesetzt sind.

Zensur im Westen: Zwischen öffentlicher Meinung und politischem Druck

Während die Zensur in Ländern wie der Türkei, Russland und China oft staatlich gelenkt ist, zeigt sich im Westen eine subtilere Form der Unterdrückung von Literatur. Hier spielen die öffentliche Meinung und der gesellschaftliche Druck eine immer größere Rolle. In Deutschland und der Schweiz etwa wurden in den letzten Jahren mehrere Kinderbücher überarbeitet, um rassistische Begriffe zu entfernen.

Ein bekanntes Beispiel ist Michael Endes "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer", in dem das N-Wort gestrichen und durch neutralere Begriffe ersetzt wurde. Auch Karl Mays "Winnetou" geriet in die Kritik, weil der Stoff als kolonialistisch und rassistisch angesehen wird. Der Ravensburger-Verlag zog daraufhin zwei Kinderbücher zurück, die den Film "Der junge Häuptling Winnetou" begleiteten.

Diese Änderungen sind meist das Ergebnis von öffentlichen Debatten und einem Wunsch nach mehr Inklusion. Sie unterscheiden sich jedoch von systematischer Zensur, da sie aus einem Bestreben heraus entstehen, niemanden zu verletzen oder zu diskriminieren. Während diese Art von Anpassung oft von einer linken Perspektive motiviert ist, kommen die meisten Zensurversuche in den USA aus dem konservativen Lager.

Laut PEN America stammen 67 Prozent der Schulbezirke, die Bücher entfernt haben, aus Staaten, die bei den Wahlen 2020 für die Republikaner gestimmt haben. Diese Bezirke sind für 88 Prozent aller Buchsperrungen verantwortlich.

Die tiefere Bedeutung der Zensur: Angst vor freien Gedanken

Zensur ist oft ein Zeichen für Angst – die Angst derjenigen in Machtpositionen vor freien Gedanken, vor Meinungen, die die bestehende Ordnung infrage stellen könnten. Monotheistische Religionen, autokratische Regime und konservative politische Kräfte haben ein großes Interesse daran, bestimmte Informationen und Perspektiven zu unterdrücken.

Dabei sind Bücher nicht nur Träger von Ideen, sondern auch mächtige Werkzeuge der Empathie und des Verständnisses. Sie haben die Fähigkeit, Brücken zu bauen zwischen Menschen mit unterschiedlichen Lebensrealitäten und Meinungen.

Ein eindrucksvolles Beispiel für die Macht von Literatur ist der nordkoreanische Roman "Freund" von Paek Nam Nyong. Der Roman, der erstmals 1988 ins Englische übersetzt wurde, erzählt Geschichten aus den Anhörungen in Scheidungsprozessen, denen der Autor beiwohnte.

In Südkorea darf das Buch zwar verkauft werden, doch steht es auf einer Liste von 23 Büchern, die südkoreanische Soldaten während ihres Militärdienstes nicht lesen dürfen. Das Verteidigungsministerium befürchtet, dass die Soldaten sonst zu viel Empathie für ihre nordkoreanischen Nachbarn empfinden könnten, was ihre Bereitschaft, im Ernstfall hart gegen sie vorzugehen, mindern würde.

Die Rolle der Öffentlichkeit: Zensur und die Macht der Meinung

Ein weiteres Phänomen, das sich im Westen zeigt, ist die Rolle der öffentlichen Meinung bei der Zensur von Literatur. In den letzten Jahren gab es mehrere Fälle, in denen die öffentliche Debatte zur Überarbeitung oder sogar zum Rückzug von Büchern führte. Diese Art der Zensur unterscheidet sich von staatlich verordneter Unterdrückung, doch sie kann ebenso tiefgreifende Auswirkungen auf die literarische Freiheit haben.

Der Fall von Astrid Lindgrens "Pippi Langstrumpf" ist ein bekanntes Beispiel. In neuen Ausgaben wurde Pippis Vater, der ursprünglich als "Negerkönig" bezeichnet wurde, in "Südseekönig" umbenannt. Diese Änderung stieß auf gemischte Reaktionen. Während einige die Anpassung begrüßten, weil sie rassistische Stereotype vermeidet, sahen andere darin einen Eingriff in die künstlerische Integrität des Werks. Solche Debatten zeigen, dass die Gesellschaft ständig im Spannungsfeld zwischen Meinungsfreiheit, Sensibilität und Inklusion navigieren muss.

Die Bedrohung der Meinungsfreiheit durch Zensur

Die voranschreitende Zensur von Büchern ist ein besorgniserregendes Phänomen, das weitreichende Konsequenzen für die Meinungsfreiheit und den Zugang zu Bildung hat. In einer Zeit, in der die Welt mit komplexen Herausforderungen konfrontiert ist, wird die Möglichkeit, unterschiedliche Perspektiven zu lesen und zu verstehen, zunehmend eingeschränkt. Ob in den USA, der Türkei, Hongkong oder Russland – Bücher werden immer häufiger als Bedrohung für bestehende Machtstrukturen angesehen und deshalb zensiert oder ganz aus dem öffentlichen Raum verbannt.

Diese Entwicklung ist besonders alarmierend, da Bücher eine einzigartige Fähigkeit besitzen: Sie fördern kritisches Denken, regen zur Reflexion an und ermöglichen es, sich in andere Lebenswelten hineinzuversetzen. Gerade jetzt, wo soziale Medien und KI den Diskurs dominieren und oft nur einseitige oder stark gefilterte Meinungen zulassen, braucht es mehr denn je die Vielfalt und Tiefe, die Bücher bieten können.

Zensur untergräbt diese Funktion der Literatur und bedroht damit auch die Grundlagen einer offenen und aufgeklärten Gesellschaft. Wenn Bücher nicht mehr frei zugänglich sind, wird es schwieriger, den Mut zu entwickeln, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen – wie es Kant in seinem berühmten Motto „Sapere aude“ forderte. Stattdessen besteht die Gefahr, dass Menschen in einer Welt leben, in der die Meinungen und Informationen, die sie erreichen, zunehmend von anderen kontrolliert und eingeschränkt werden.

Gerade in einer Zeit, in der sich die Welt schnell verändert und neue Herausforderungen auf uns zukommen, ist es entscheidend, dass wir Zugang zu vielfältigen und kritischen Stimmen haben. Bücher können dazu beitragen, gesellschaftliche Gräben zu überbrücken und eine tiefere Verständigung zu ermöglichen. Doch die aktuelle Welle der Zensur bedroht diese wertvolle Funktion der Literatur. Wenn wir uns dieser Entwicklung nicht entgegenstellen, riskieren wir, dass die Meinungsfreiheit und die Fähigkeit, kritisch zu denken, nachhaltig geschwächt werden. Es ist daher unerlässlich, für den freien Zugang zu Literatur zu kämpfen, um auch in Zukunft den Herausforderungen unserer Zeit mit einem aufgeklärten und selbstbestimmten Geist begegnen zu können.


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