In ihrem neuesten Roman „Reichskanzlerplatz“ wagt sich die preisgekrönte Autorin Nora Bossong an eine historische Figur, die in den dunklen Kapiteln der deutschen Geschichte eine zentrale Rolle spielte: Magda Goebbels.
Nora Bossongs Roman „Reichskanzlerplatz“: Ein subtiler Blick auf Magda Goebbels und das Deutschland der 1930er Jahre
Doch anstatt sich in eine detaillierte Biografie oder psychologische Analyse zu vertiefen, wählt Bossong einen ungewöhnlichen Ansatz. Sie präsentiert uns die Geschichte aus einer distanzierten, fast beiläufigen Perspektive, die mehr Fragen aufwirft als Antworten liefert.
Magda Goebbels: Ein Leben voller Rollen
Geboren 1901, durchlief Magda Goebbels – geboren als Magda Ritschel – verschiedene Phasen in ihrem Leben, gekennzeichnet durch eine Vielzahl von Nachnamen und Identitäten. Bossong hebt diese wechselhaften Identitäten hervor, indem sie auf Magdas wechselnde Nachnamen eingeht: Behrend, Friedländer, Quandt und schließlich Goebbels.
Diese Namen spiegeln die unterschiedlichen Rollen wider, die Magda im Laufe ihres Lebens einnahm, geprägt durch ihre Beziehungen zu Männern, insbesondere ihrer Ehe mit Joseph Goebbels, dem berüchtigten Propagandaminister des Dritten Reiches.
Bossongs Erzähler beschreibt Magda als eine Frau, die sich nach Aufmerksamkeit sehnte, aber gleichzeitig Angst davor hatte, wirklich erkannt zu werden. Diese Beschreibung deutet auf die Komplexität und die inneren Konflikte hin, die Magda möglicherweise ihr Leben lang begleiteten. Statt einer tiefen Charakterstudie wählt Bossong jedoch einen erzählerischen Abstand, der Magda Goebbels fast zu einer Nebenfigur in ihrer eigenen Geschichte macht.
Der Erzähler: Ein Blick von außen
Interessanterweise wählt Bossong einen Erzähler, der am Rande der Geschehnisse steht. Hans, ein junger Mann, der durch Zufall in Magdas Leben tritt, ist die zentrale Figur des Romans. Seine Affäre mit Magda wird fast beiläufig behandelt, und doch symbolisiert sie die Veränderungen, die in Deutschland während der 1930er Jahre stattfanden.
Hans, der als homosexueller Mann in einer zunehmend feindseligen Umgebung lebt, spürt die Bedrohung, die von den Nationalsozialisten ausgeht, und muss sich entscheiden, wie er in dieser gefährlichen Zeit überleben kann.
Diese Wahl eines „Außenseiters“ als Erzähler gibt dem Roman eine besondere Note. Statt eine epische, dramatische Erzählung zu bieten, legt Bossong Wert auf die kleinen, scheinbar unbedeutenden Momente, die dennoch tiefgreifende Auswirkungen auf die Charaktere und ihre Entscheidungen haben.
Magda Goebbels im Hintergrund
Obwohl Magda Goebbels eine zentrale Figur des Titels zu sein scheint, bleibt sie im Laufe des Romans zunehmend im Hintergrund. Dies steht im Einklang mit Bossongs Ansatz, keine konventionelle Biografie zu schreiben. Stattdessen vermittelt der Roman den Eindruck, dass Magda in einer Welt lebt, die sie selbst nicht vollständig kontrollieren kann. Ihre Rolle als Frau von Joseph Goebbels bringt sie in die Nähe der Macht, aber zugleich auch in eine Position der Isolation und Verzweiflung.
Der Roman führt uns vor Augen, wie sich das politische und gesellschaftliche Klima im Deutschland der 1930er Jahre allmählich veränderte, oft ohne dass die Menschen die Tragweite dieser Veränderungen erkannten. Bossong zeigt, wie Hans und andere Charaktere versuchen, sich in einer Welt zurechtzufinden, die zunehmend von Lügen, Verrat und Gewalt beherrscht wird.
Ein Roman über das Wegsehen und Verdrängen
„Reichskanzlerplatz“ ist mehr als nur eine Geschichte über Magda Goebbels. Es ist ein Roman über das Wegsehen, das Verdrängen und das Überleben in einer Zeit, in der moralische Entscheidungen oft schwerer wogen als das tägliche Überleben. Hans, der Erzähler, verkörpert dieses Dilemma. Als Mitläufer, der seine Homosexualität verstecken muss, wird er gezwungen, sich anzupassen und zu tarnen, um zu überleben.
Literarische Qualität und Stil
Nora Bossong ist bekannt für ihre sorgfältige Recherche und ihren präzisen Erzählstil, der auch in „Reichskanzlerplatz“ deutlich wird. Der Roman ist kein konventioneller historischer Roman, sondern eher eine Antibiografie, die historische Fakten und fiktionale Elemente miteinander verbindet. Die distanzierte Erzählweise erinnert an Werke wie Daniel Kehlmanns „Lichtspiel“, wo der historische Kontext eher als Kulisse für die Erkundung der menschlichen Natur dient.
Bossong setzt auf subtile Hinweise und geschickt platzierte Dialoge, um die innere Zerrissenheit und die moralischen Konflikte ihrer Figuren zu verdeutlichen. Die scheinbare Kühle des Erzählers verstärkt die Wirkung der Geschichte und macht sie zu einer eindringlichen Reflexion über eine der dunkelsten Epochen der deutschen Geschichte.
Eine kraftvolle Erzählung über den deutschen Alltag in der NS-Zeit
Mit „Reichskanzlerplatz“ liefert Nora Bossong eine kraftvolle Erzählung ab, die den Leser zwingt, über die moralischen Grauzonen nachzudenken, in denen die Menschen während der NS-Zeit lebten. Magda Goebbels bleibt eine komplexe, aber letztlich rätselhafte Figur, während Hans als Symbol für die vielen Menschen steht, die gezwungen waren, in dieser Zeit Kompromisse einzugehen. Bossongs Roman ist eine bemerkenswerte literarische Leistung, die sowohl durch ihre formale Eleganz als auch durch ihre tiefgründige Auseinandersetzung mit der Geschichte besticht.
Die Autorin Nora Bossong
Nora Bossong, geboren 1982 in Bremen, ist eine renommierte deutsche Autorin und Dichterin. Sie studierte Kulturwissenschaften, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin, Leipzig und Rom. Ihr literarisches Schaffen umfasst Romane, Gedichtbände und Essays, in denen sie häufig politische und gesellschaftliche Themen behandelt. Zu ihren bekannten Werken gehören "Webers Protokoll" und "Gesellschaft mit beschränkter Haftung". Sie wurde mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem Peter-Huchel-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Joseph-Breitbach-Preis, und lebt in Berlin.