Davide Coppos Debütroman „Der Morgen gehört uns“ ist eine packende und tiefgründige Erzählung, die die Radikalisierung der Jugend in Italien während der frühen 2000er Jahre beleuchtet. Das Buch wurde aus dem Italienischen von Jan Schönherr übersetzt. Erschienen ist das Buch am 22. Juli 2024 beim Kjona Verlag.
Mit einem scharfsinnigen Blick auf die gesellschaftlichen Mechanismen, die junge Menschen in die Fänge rechtsextremer Bewegungen treiben, bietet der Roman nicht nur eine fesselnde Geschichte, sondern auch eine wichtige Analyse zeitgenössischer Themen.
Inhalt und zentrale Themen
Die Handlung des Romans folgt Ettore, einem 17-jährigen Jungen aus einem Vorort von Mailand. Ettore wächst in einem lieblosen Elternhaus auf, in dem Kommunikation und emotionale Wärme fehlen. Seine Mutter hat hohe Erwartungen an seine Bildung, doch an seiner neuen Schule fühlt sich Ettore verloren und isoliert. In dieser Phase der Unsicherheit und Orientierungslosigkeit findet er neue Freunde, die ihn in die Federazione einführen, eine faschistische Jugendorganisation. Hier kommt er zum ersten Mal mit Italiens jüngerer Vergangenheit und politischen Theorien in Kontakt.
Radikalisierung und die Suche nach Zugehörigkeit
Ettore ist ein Jugendlicher, der nach Zugehörigkeit und Sinn sucht. Die Federazione bietet ihm eine Gemeinschaft und klare Strukturen, die ihm in seinem sonst chaotischen Leben fehlen. Coppo beschreibt eindringlich, wie Ettore in die Ideologie der Gruppe hineingezogen wird. Seine Entwicklung wird detailliert geschildert, von den ersten Begegnungen bis hin zur aktiven Teilnahme an Demonstrationen und gewalttätigen Auseinandersetzungen. Diese Darstellung zeigt auf erschreckende Weise, wie schnell und tief junge Menschen in extremistische Kreise abgleiten können, wenn sie nach Identität und Anerkennung suchen.
Erzählstil und literarische Qualität
Der Roman wird aus der Ich-Perspektive von Ettore erzählt, was dem Leser einen direkten Zugang zu seinen Gedanken und Gefühlen ermöglicht. Coppos Schreibstil ist bewusst distanziert und reduziert, was die innere Leere und Unsicherheit des Protagonisten verstärkt. Einige Kritiker empfinden diese stilistische Entscheidung als passend und authentisch, während andere sie als hinderlich für das Lesevergnügen sehen. Dennoch wird der Roman für seine realistische Darstellung der Radikalisierungsmechanismen und seine gesellschaftliche Relevanz gelobt.
Historischer und gesellschaftlicher Kontext
„Der Morgen gehört uns“ spielt in einer Zeit, die von politischen und sozialen Umbrüchen geprägt ist. Die frühen 2000er Jahre in Italien waren eine Phase der Neuorientierung, in der alte ideologische Kämpfe wieder auflebten. Die mangelnde Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit und die allgegenwärtige Bürokratie tragen zur Orientierungslosigkeit junger Menschen bei. Coppo zeigt, wie historische Ignoranz und soziale Isolation zu einer Wiederholung der Fehler der Vergangenheit führen können (Büchereule.de).
Charakterentwicklung und emotionale Tiefe
Ettore ist ein vielschichtiger Charakter, dessen Entwicklung im Laufe des Romans intensiv beschrieben wird. Anfangs ist er ein unsicherer Junge, der nach Anerkennung sucht. Doch je tiefer er in die faschistische Ideologie eintaucht, desto mehr wandelt sich seine Persönlichkeit. Coppo gelingt es, die innere Zerrissenheit und die zunehmende Radikalisierung glaubwürdig darzustellen. Ettore wird von einem naiven Jugendlichen zu einem aktiven Teilnehmer an extremistischen Aktivitäten. Diese Transformation ist erschreckend und zugleich faszinierend (Thalia).
Einfluss von Familie und Freunden
Ein zentrales Element des Romans ist das Verhältnis zwischen Ettore und seiner Familie sowie seinen Freunden. Seine Eltern sind emotional distanziert und bieten ihm keinen Halt. Die einzige Person, der er sich anvertraut, ist seine Großmutter Elsa. Doch selbst ihr gegenüber verheimlicht er seine Aktivitäten in der Federazione. Die neuen Freunde, die er dort findet, bieten ihm eine Art Ersatzfamilie, die ihm jedoch gefährliche Ideologien vermittelt. Diese Beziehungen verdeutlichen die komplexen sozialen Geflechte, die zur Radikalisierung beitragen können (Buchraum) (Büchereule.de).
Gesellschaftliche Relevanz und aktuelle Bezüge
„Der Morgen gehört uns“ ist nicht nur eine persönliche Geschichte, sondern auch eine scharfsinnige Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen, die Radikalisierung begünstigen. In einem Italien, das sich nur zögerlich mit seiner faschistischen Vergangenheit auseinandersetzt, zeigt Coppo, wie historische Ignoranz und soziale Isolation zu einer Wiederholung der Fehler der Vergangenheit führen können. Der Roman wirft Fragen über Verantwortung, Gemeinschaft und die Gefahr des Extremismus auf und lädt den Leser dazu ein, sich kritisch mit diesen Themen auseinanderzusetzen (Thalia).
Faszination und Schrecken der Radikalisierung
Ein besonders starker Aspekt des Romans ist die detaillierte Darstellung der schrittweisen Radikalisierung Ettores. Coppo zeigt, wie leicht beeinflussbare Jugendliche durch charismatische Anführer und einfache Antworten auf komplexe Probleme in extreme Ideologien hineingezogen werden können.
Die Federazione bietet Ettore nicht nur eine Gemeinschaft, sondern auch eine scheinbare Lösung für seine tief verwurzelte Unsicherheit und seine Suche nach Bedeutung. Die schrittweise Eskalation von harmlosen Treffen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen wird realistisch und erschreckend dargestellt (Büchereule.de).
Symbolik und Metaphern
Coppo verwendet in seinem Roman zahlreiche Symbole und Metaphern, um die innere Zerrissenheit und die äußeren Einflüsse auf Ettore darzustellen. Die Federazione selbst steht als Symbol für die verführerische Macht extremistischer Ideologien, während Ettores Großmutter Elsa die letzte Verbindung zu einer stabilen und liebevollen Welt darstellt. Diese Symbole helfen, die tiefere Bedeutung der Geschichte und die universellen Themen von Identität, Zugehörigkeit und moralischer Verwirrung zu verdeutlichen (Buchraum).
Postfaschismus in der italienischen Literatur
Davide Coppos „Der Morgen gehört uns“ ist ein tiefgründiger und wichtiger Roman, der aktuelle gesellschaftliche Probleme aufgreift und zur Reflexion anregt. Die Geschichte von Ettore ist eine eindrucksvolle Darstellung der Gefahren von Radikalisierung und der Notwendigkeit, jungen Menschen eine stabile und unterstützende Umgebung zu bieten.
Obwohl der Stil möglicherweise nicht jeden Leser anspricht, ist die erzählerische Tiefe und die gesellschaftliche Relevanz des Romans unbestreitbar. „Der Morgen gehört uns“ ist nicht nur für Liebhaber italienischer Literatur, sondern auch für alle, die sich für die Mechanismen von Radikalisierung und den Umgang mit historischen Traumata interessieren, eine lohnenswerte Lektüre.
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